Die Frau im Tal
unbegreiflich für sie, daß Marianne nicht mehr da ist, und besonders unbegreiflich ist, daß du plötzlich bei uns auftauchst, wie ein Schachtelteufel.«
Ich versuche, die brennende Röte, die mir ins Gesicht steigt, zu verbergen.
»Ist es ihr unangenehm, daß ich kam?«
»Nein, im Gegenteil!« sagt Eirik eifrig. »Es ist fast zu schön, um wahr zu sein, für uns beide! Seit wir im Juni die Nachricht von dem Selbstmord erhielten, war es uns schwergefallen, über diese Dinge zu reden. Sigrun reagiertschnell sehr emotional, aber es gibt niemanden, mit dem sie über ihre Schwester sprechen kann. Niemanden außer dir.«
»Was kann ich schon beitragen? Die Zeit, die ich mit Marianne hatte, war ja so kurz. Sie lebte viele verschiedene Leben. Das sonderbarste bei der Beerdigung war, daß keiner von Mariannes Freunden von mir wußte. Sie hatten keine Ahnung, daß ich existierte.«
»Was hätten sie denn wissen sollen?«
»Zumindest, daß wir verheiratet waren. Ist das zuviel verlangt?«
»Natürlich nicht. Ich finde das auch sonderbar.«
»Nicht einmal du und Sigrun wußten es.«
Er nickt. »Ich verstehe, daß das schwer zu akzeptieren ist.«
»Sie muß einen Grund gehabt haben. Mir schien sie ausgesprochen häuslich. Ich glaubte an diese Zweisamkeit. Ich glaubte an dieses Leben im Skoog-Haus. Die langen Abende, an denen wir füreinander Musik spielten. Die Nähe und die Fürsorglichkeit, die sie mir gegenüber in allen Situationen zeigte. Ich glaubte, ihre Freude sei echt, als sie sagte, sie sei schwanger. Und die Hochzeitstage in Wien … Dieses Gefühl der Zusammengehörigkeit, das sie ausstrahlte. Marianne war nicht dumm. Aber jetzt ist sie tot. Und alle ihre Freunde lachen über mich, denke ich. Den Schwarzen Peter habe ich.«
Eirik Kjosen schüttelt den Kopf.
»Sie war nicht zynisch. Sigrun ist auch nicht zynisch. Aus dem, was Sigrun erzählte, mußte ich schließen, daß Marianne ein Vorbild für sie war. Aber das wagte sie weder vor sich noch vor mir zuzugeben. Marianne machte nichts halbherzig. Das macht Sigrun auch nicht.«Ich weiß nicht, wie weit ich bei diesem Gespräch gehen will.
»Sie waren so ähnlich«, sagt Eirik Kjosen ernst.
»Ja. In gewisser Hinsicht.«
»Deshalb habe ich Angst, sie zu verlieren.«
»Wie solltest du sie verlieren?«
Er macht eine weite Handbewegung.
»So wie du Marianne verloren hast. Es ist schrecklich und unwiderruflich, wenn jemand freiwillig in den Tod geht. Und man erfährt nie, warum er sich für diesen Schritt entschieden hat, oder?«
Ich zucke die Schultern. Es fällt jetzt leichter, über Mariannes Selbstmord zu sprechen. Er hat sich mit meiner eigenen Geschichte verknüpft. Egal, wovor Marianne flüchtete oder wonach sie sich sehnte, sie wird für immer mit meinem Leben verknüpft sein. Dieser Gedanke gibt mir eine gewisse Kraft.
»Ich weiß, was du mich fragen willst. Du willst wissen, warum sich Marianne erhängt hat.«
»Nicht so direkt«, sagt er verlegen.
»Warum nicht? Was haben wir zu verbergen? Nein, ich weiß nicht, warum sich Marianne erhängt hat. Ich weiß nicht, wie es in diesen letzten Tagen in ihrem Kopf ausgesehen hat. Vielleicht ist etwas in mir, das sehr wütend auf sie ist, weil sie mir etwas vorgespielt hat, weil ich nie die Chance bekam, mit ihr über das zu reden, was sie sich vorgenommen hatte. Vielleicht hatte sie das Gefühl, vor niemandem Rechenschaft ablegen zu müssen. Nicht einmal vor dem Ungeborenen. Sie hatte gerade eine Tochter verloren. Und sie hatte ihren Mann verloren.«
»Ja, Bror Skoogs Tod ist unerklärlich, nicht wahr?« Eirik Kjosen schaut mich fragend an.
Ich schüttele den Kopf. »Ich glaube, ich weiß, warum ersich das Leben nahm. Es war aus Liebeskummer. Oder aus akuter geistiger Verwirrung. Nur wenige Minuten nachdem er erfahren hatte, daß ihm Marianne untreu gewesen war, ging er in den Keller, um sich das Hirn aus dem Kopf zu pusten. Mariannes Worte.«
»Bist du sicher, daß es so einfach war?«
»Wie meinst du das?«
»Daß es die ganze Zeit etwas anderes war. Daß die Nachricht von der Untreue die Handlung nur auslöste, ohne die eigentliche Ursache zu sein?«
»Was soll dieses andere gewesen sein?«
»Die Beziehung zu Tochter Anja. Ein Schuldgefühl. Weil sie buchstäblich in seinen Händen verwelkte.«
»Das wissen wir nicht. Wie buchstäblich es war. Die Hände, meine ich. Kanntest du Bror Skoog gut?«
»Eigentlich nicht. Wir trafen uns nur bei diesen aufreibenden Familienfeiern. Er war der
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