Die Frau im Tal
sollen natürlich nicht im Beisein der Schüler trinken. Wir haben auch kein Bedürfnis danach. Aber wir sind auch nur normale Sterbliche. Ich trinke nur, wenn Sigrun nicht hier ist.«
Er setzt sich. »Hast du es nicht gemerkt?«
»Was soll ich gemerkt haben?«
»Daß Sigrun ein Alkoholproblem hat.«
»Ich habe auch ein Alkoholproblem.«
»Nein. Du trinkst auf andere Art. Du trinkst in allerOffenheit, wenn du kannst. Es ist dir jedenfalls ziemlich egal, was die Leute von dir denken. Bei Sigrun ist das anders. Sie versteckt die Flaschen.«
»Wirkt sich das nicht negativ auf ihre Arbeit aus?«
»Nie. Fast nie. Obwohl, was weiß ich? Ich bin ja nicht dabei, wenn sie in Kirkenes ist.«
Nein, denke ich. Das ist er nicht. Dort kann er sie nicht kontrollieren. Ebensowenig wie ich Marianne kontrollieren konnte, wenn sie das Haus im Elvefaret verließ. Hat er von den Gerüchten gehört? Weiß er, daß sogar Rebecca Frost im fernen Oslo aufgeschnappt hat, daß Sigrun eine Distriktsärztin ist, über die man redet? Wir sitzen und schauen uns an. Jetzt ist er an der Reihe, denke ich. Er hat mich schließlich hierhergelockt.
»Wir könnten eine Platte auflegen«, sagt er.
»Keine Musik«, sage ich mit einem merkwürdigen Gefühl des Unbehagens. »Ausnahmsweise nicht.«
»Ich habe auch keine Lust auf Musik«, sagt er. »Absolut nicht.«
»Warum haben wir keine Lust auf Musik?« sage ich.
Er fängt an zu lachen. Er bemerkt ebenso schnell wie ich die Schwachsinnigkeit dieses Dialogs. Sein Lachen hat etwas Befreiendes. Ich fange ebenfalls zu lachen an.
»Ja, warum haben wir in diesem Moment keine Lust auf Musik?« Er lacht, bis er hustet. »Sollten wir nicht gerade heute abend ein dringendes Bedürfnis nach Musik haben?«
»Dort drüben stehen Schubert, Bach und Beethoven«, sage ich und schaue zu der Plattensammlung in dem Regal. »Die großen Meisterwerke.«
»Laß sie dort stehen«, sagt Eirik Kjosen ernst.Dann lachen wir nicht mehr.
»Es gibt etwas, worüber du mit mir sprechen willst.«
Er läßt seinen Blick durchs Zimmer schweifen.
»Nichts Spezielles. Wirklich nicht. Ich mußte mich nur davon überzeugen, daß es dir gutgeht. Es ist doch erstaunlich, daß du wirklich zusammen mit uns hier oben im Grenzland sein willst.«
»Es ist ein schöner Ort«, sage ich. »Es muß phantastisch sein, hier als Familie zu leben. All die Möglichkeiten, die man hat. Außerdem muß es gut sein, hier aufzuwachsen.«
»Wir haben uns Kinder gewünscht«, sagt er ernst. »Wir haben uns das sehnlichst gewünscht. Von Anfang an. Aus irgendeinem Grund möchte ich, daß du das weißt. Sigrun war ja schwanger, wie sie dir beim Begräbnis erzählte. Ich glaube, du bist hierher in den Norden gekommen, weil du auch Sigrun verstehen willst. Wer sie ist, wie eng die familiäre Verbindung war, die sie mit Marianne hatte. Das trifft doch zu?«
Soll ich es ihm erzählen? Wie besessen ich von dieser Familie war, jahrelang? Wie ich nicht mehr weiterwußte. Wie ich mir ohne sie kein Leben vorstellen konnte. Soll ich ihm erzählen, wie es in meinen Gedanken aussieht? Daß zwei tot sind. Daß eine übrig ist. Daß Sigrun die letzte Hoffnung ist.
»Marianne und ich sollten ein Kind haben«, sage ich.
»Ich weiß. Vielleicht habe ich dir deshalb das mit Sigrun und mir erzählt.«
»Kanntest du Marianne? Habt ihr euch öfter getroffen?«
»Nein. Nicht oft. Das Verhältnis zwischen den beiden Schwestern war einfach hoffnungslos.«
»Wie das?«
»Ein ständiges Rivalisieren.«
»War es nicht merkwürdig, sie zusammen zu sehen? Fast wie Zwillinge?«
»Gerade die Ähnlichkeit hat sie so mißtrauisch gemacht. Sie bemerkten gegenseitig Charakterzüge, die sie nicht mochten. Sie waren nie Freundinnen. Sie trafen sich vornehmlich auf Familienfeiern. Sigrun graute es immer davor; schon beim Flug nach Oslo mußte sie Valium schlucken.«
»Aus welchem Grund?«
»Die Wurzeln liegen in der Kindheit. Sigrun hat dir sicher davon erzählt.«
»Ja, doch. Soviel ich verstanden habe, wurde sie von Marianne nicht unterstützt, als sie Musik studieren wollte.«
»Ein seltsamer Konflikt. In diesem Punkt konnte ich Sigrun nie folgen. Als wolle sie ihrer großen Schwester die Schuld dafür geben, daß sie es nicht selbst geschafft hat. Eine Verbitterung, die bis heute tief in ihr steckt. Sie hat Marianne gebraucht, hat diese Verbitterung gebraucht, wollte es aber vor anderen nicht zeigen. Sie blieb allein damit. Das hat sich aufgestaut. Deshalb ist es so
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