Die Frau im Tal
verkaufen, in dem sich Menschen das Leben genommen haben. Das läßt sich nicht einfach verschweigen, oder? Vorläufig kannst du also weiter Mieter bleiben.«
»Vielen Dank. Aber Mieter bin ich nicht mehr. Ich habe im April Marianne geheiratet.«
Sie schluckt.
»Mach dir mal keine Sorgen, Junge«, sagt sie schließlich. »Wir werden schon eine Lösung finden.«
Sie fragt mich, ob ich auf dem Begräbnis etwas sagen möchte, im Krematorium oder während der Gedenkstunde danach.
Ich überlege lange. Wer bin ich für Mariannes Familie? Der junge Bursche, der sich gerne im Skoog-Haus einnisten will? Der Kerl, der sie aus dem Gleichgewicht gebracht hat? Der schlimmste Lebensgefährte, den sie in diesem Stadium ihres Lebens haben konnte?
»Ich hätte eine Menge zu sagen«, sage ich schließlich. »Aber ich weiß nicht, ob ich die richtigen Worte finde.«
Ida Liljerot hat eine Idee.
»Du könntest etwas spielen«, sagt sie.
»Spielen?«
»Ja, für Marianne«, sagt sie. »Willst du das nicht?«
»Nein«, sage ich. »Sie ist tot. Sie hört mich nicht mehr.«
»Doch«, sagt sie. »Du könntest etwas Schönes auf dem Klavier spielen. Du könntest zum Beispiel deine eigene Komposition spielen. Die du so wunderbar auf deinem Debütkonzert gespielt hast.«
»Du warst dort?«
»Natürlich war ich dort.«
»›Elven‹ spielen?« Ich überlege. »Das waren die letzten Töne, die Marianne hörte, bevor sie die Aula verließ und sich mit dem Taxi hierher nach Hause bringen ließ.«
»Dann um so passender«, sagt sie.
»Meinst du wirklich? Sich nach allem, was geschehen ist, ans Klavier setzen? Das erscheint mir so armselig.«
»Jetzt hör mir mal zu«, sagt Ida Marie Liljerot bestimmt, obwohl ihre Stimme zittert. »Du brauchst Zeit. Das war ein harter Schlag. Im Moment erscheint ja unsallen das Leben sinnlos. Aber du darfst um Gottes willen nicht aufhören zu spielen. Konzentriere dich auf das, was du kannst. Du hast keine Wahl. Mach ihr ein Geschenk. Spiel ein letztes Mal für sie.«
Zehn Minuten danach ruft Gabriel Holst an.
»Wie geht es meinem Rekordfisch?« Er spricht auf seine langsame, schleppende Art.
»Der Rekordfisch hat Schmerzen im Mund«, sage ich.
Er läßt ein trockenes, unheimliches Lachen hören. »Diese Löffelköder waren auch nie als Futter für die Menschen gedacht«, sagt er.
»Ich schulde dir eine Entschuldigung«, sage ich.
»Keineswegs. Ich hatte Gelegenheit, meine Angel zu testen, und der Blinker mit den schwarzen Punkten war so gut, daß sich damit Werbung machen ließe: ›Nicht einmal Menschen können widerstehen!‹ Die Firma könnte doch unsere Geschichte kaufen, was meinst du? Damit verdienen wir vielleicht das Geld, das wir mit der Musik nicht verdienen. Was haben sie im Krankenhaus gesagt?«
»Sie wollten herausfinden, ob ich es noch mal mache.«
»Klar. Das ist der Preis, den du für so eine Schnapsidee zahlst. Das wußtest du doch?«
»Vielleicht.«
»Nimm’s dir nicht so zu Herzen. Für die Fachleute ist Selbstmord gerne ein Zeichen von Unreife und Unausgeglichenheit. Witzig nur, daß die begabtesten Künstler und Intellektuellen dieser Welt dazu neigten, diese Dummheit zu begehen.«
»Das hat Marianne auch gesagt.«
»Aber sie haben dich trotzdem entlassen?«
»Ja, unter der Bedingung, daß ich akzeptiere, Hilfe zu brauchen.«
»Brauchst du Hilfe?«
»Gudvin Säffle, der Psychiater, wollte mit mir am liebsten über Musik reden. Ich glaube, er verfolgt ein Projekt über mentale Leiden und Musik als Linderung. Vielleicht kann ich ihm zu der Professorenstellung verhelfen, nach der er giert.«
»Darf ich zum Begräbnis kommen?« sagt Gabriel Holst. »Auch wenn ich sie nicht gekannt habe, ist mir, als sollte ich dabeisein.«
Ich nicke, vergesse zu reden.
»Jeanette kommt auch. Meine Freundin. Ist das okay?«
»Natürlich«, sage ich nach einer Pause.
»Dann sehen wir uns morgen«, sagt er.
Vorbereitungen für den Abschied
Juni 1971. Die Tage werden mein Leben lang wie Flecken auf einem Fenster sein. Manchmal sind die Flecken alles, was ich wahrnehme. Oder ich übersehe sie, schaue daran vorbei und nehme ihnen ihre Bedeutung, erkenne dahinter Landschaften. Aber das weiß ich noch nicht. Ich weiß nur, daß ich von Marianne Abschied nehmen werde und von dem Kind, das unsere Zukunft war, und von dem Leben, das ich hätte führen können, ein ganz anderes Leben als das, das ich jetzt leben muß, daß ich ihre Familie treffen werde und einen Bezug zu ihrer Trauer
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