Die Frau im Tal
Junge. Noch nicht.«
Sie streicht mir zärtlich über den Kopf. Ich spüre es physisch, werde jäh wach und setze mich im Bett auf. Diese Zärtlichkeit war wirklich. Wer träumt diese Träume in mir? Wer läßt sie wiederauferstehen, so klar und deutlich, daß ich immer noch die Hand in die Luft halte?
»Marianne«, murmele ich. »Warst du es wirklich?«
Sigrun kommt
Dann, eines Tages, ist sie wieder da, steht plötzlich in meinem Zimmer, in Lammfelljacke und Jeans. Sie unterbricht mich mitten in dem schwierigen dritten Satz, der verzweifelten Gewißheit im Nebenthema, der plötzlichen Sehnsucht nach Versöhnung und Klarheit. Zurückgekehrt zu mir, denke ich. Wir umarmen uns, als seien wir seit langem ein Liebespaar. Aber eine Verlegenheit entsteht, obwohl ich Tränen in ihren Augen sehe.
»Ich habe dich sehr vermißt«, sage ich.
»Hast du etwas zu trinken«, murmelt sie.
Ich stelle die Wodkaflasche auf den Tisch. Zwei Milchgläser. Sie hat aufgehört, sich zu verstellen. Als wüßte sie, was mir Eirik über ihr Trinken erzählt hat.
Dann trinken wir. Vorsichtig, aber gezielt.
Der Rausch kommt wie ein Schuß.
»Ich habe einen seltsamen Gedanken«, sagt sie. »Als ob du meine ganze Familie bist. Die wirkliche. Als würdest du Seiten an mir kennen, die ich versucht habe zu vergessen.«
»Ist das schlecht?«
»Nein, das ist wie ein unerwartetes Geschenk.«
Ich habe eine Woche lang geübt. Ich habe den Umgang mit Eirik möglichst vermieden. Ich will ihn nicht als besten Freund. So eine Verbindung zu ihr will ich nicht. Endlich richtet sich meine ganze Aufmerksamkeit auf die Noten. Die anderen haben mich in Ruhe gelassen. Als verstünden sie, daß ich jetzt die volle Konzentration brauche.
»Ich habe gehört, daß am ersten Abend etwas Schreckliches passiert ist?«
»Ja. Weißt du Näheres?«
»Soviel ich weiß, ist er nicht tot. Der norwegische Nachrichtendienst hätte das herausgekriegt. Wir hätten es erfahren. Kirkenes ist immer voller Gerüchte. Sie schossen ihm in die Beine.«
»Gunnar Høegh war mit uns zusammen.«
Sie nickt. »Er und Eirik sind sehr gute Freunde.«
»Aber dann fuhr er zurück nach Kirkenes?«
»Er ist schließlich Direktor von A/S Sydvaranger«, sagt sie kurz.
Ich merke, daß sie nicht weiter über Gunnar Høegh reden will. Das macht nichts. Er ist nicht mehr gefährlich. Ein alternder, krebskranker Mann, der Sigrun bei einem Kinderheimprojekt in Rußland unterstützt. Das ist in Ordnung. Das ist, wie es ist, denke ich.Wir sitzen auf der Bettkante, sind verlegen und wissen nicht, was wir reden sollen. Wir streicheln unsere Hände. Ihre Wangen sind rot vom Alkohol.
Dann schaut sie mich ernst an. Dieser Blick hat mich jedesmal gebannt. Anjas Blick. Mariannes grüne Augen. Wenn diese Frauen für mich verschmelzen, dann deshalb, weil sie etwas gemeinsam haben, nicht nur äußerlich, auch psychologisch gesehen. Eine Stärke, die unüberwindlich wirken kann, um im nächsten Moment zu Staub zu zerfallen. In diesen Augen tanzen Dämonen. Sie will sich zurückziehen, aber es ist eine Sekunde zu spät. Wir kippen rückwärts aufs Bett. Jetzt spürt sie, wie sehr ich sie erobern will, wieviel ich ihr geben möchte. Was ich Anja nie gab, weil ich zu jung und unsicher war. Was ich Marianne nicht zu geben wagte, weil sie zu erwachsen war. Aber zwischen mir und Sigrun sind nicht so viele Jahre. Ich will bis an die Grenze des Möglichen gehen, ohne daran zu denken, was zwischen mir und den andern in ihrer Familie geschehen ist. Und ich bin überrascht von der Heftigkeit dessen, was geschieht. Alles liegt versteckt in dieser gemeinsamen Trauer, die wir haben, denke ich, erregt davon, daß sie so nahe ist, daß sie noch unerreichbar wirkt, daß sie sich nicht beherrschen kann, daß sie mich sowohl abweist wie ermuntert. Ich liebe jedes Detail. Die kleinen Sommersprossen, die ich jetzt entdecke, der Geschmack ihrer Lippen, die fordernden und erfahrenen Bewegungen, mit denen sie mir entgegenkommt, ihre Art, mich zu umfassen, all das entfacht den Wunsch, gut zu ihr zu sein. Ich will mit ihr schlafen, mit ihr träumen und mit ihr erwachen. Möchte sie von mir abhängig machen. Möchte sie dazu bringen, auch mich zu lieben.
»Bald wirst du zwanzig«, sagt sie, um mich daran zu erinnern, wie unmöglich das ist. Trotzdem weist sie michnicht zurück. Noch ist es, als genieße sie, wie sehr ich sie begehre, daß ich voller Anspannung bin, daß ich bis in den hohen Norden gekommen bin, um sie zu
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