Die Frau im Tal
Schülerhaben am Berghang eine Rodelbahn gebaut. Sie schreien und johlen. Tanja Iversen steht mit ein paar Jungs unten auf dem Hof und schaut herauf zu mir oben vor der Eingangstür zum Bungalow. Ich starre in das offene und interessierte Gesicht von Eirik Kjosen. Ich lasse den Mut sinken, aber bevor ich ein Wort sagen kann, versichert er:
»Ihr sollt natürlich für euch sein. Ich mache eine Wanderung mit einigen der Jungs.«
Gut, denke ich erleichtert. Sigrun kann es doch nicht so schwer für uns machen.
Als ich in das dunkle Wohnzimmer komme, sehe ich, daß Sigrun bereits die Geige in der Hand hält. Ein dunkel lakkiertes Instrument, das ziemlich wertvoll aussieht. Sie steht in der Ecke beim Klavier und stimmt die Geige. Sie trägt einen altmodischen, grünkarierten Tweedrock und eine hellbeige Strickjacke. Ich sehe, daß sie nervös ist. Ich bin selber nervös. Es ist etwas anderes, sich in der Musik zu begegnen als draußen im Leben. Sie begrüßt mich, als sei nichts geschehen.
»Du willst also tatsächlich mit einer alten Schachtel wie mir spielen«, sagt sie munter.
»Eine Ehre«, sage ich ernst.
»Vielleicht darf ich ja das nächste Mal, wenn ihr übt, zuhören«, sagt Eirik freundlich.
»Klar«, sage ich. »Jederzeit.«
»Wir wollen zuerst sehen, wie es läuft«, sagt Sigrun und stimmt mit springendem Bogen.
»Dann verschwinde ich«, sagt Eirik munter. »Macht’s gut, ihr beiden.«
Sie läuft zu ihm. Gibt ihm einen Kuß auf die Wange.
»Viel Vergnügen«, sagt sie. »Und sei vorsichtig.«Als wir allein sind, macht sie keine Anstalten, reden zu wollen. Als könnten wir nicht schnell genug mit dem Spielen beginnen. Sie ist Anjas Tante, denke ich. Da ist viel Musik in ihr.
»Du hast die Noten?« sage ich.
Sie nickt und gibt mir die Klavierstimme. Die Violinsonate in A-Dur von Brahms.
»Du hast sie oft gespielt?«
»Nicht mit jemandem zusammen«, sage ich. »Aber Mutter hatte sie auf Schallplatte.«
»Welche Aufnahme?«
»Mit Isaak Stern und Alexander Zakin. Aufgenommen im CBS-Studio in New York. Wir mochten sie beide besonders gern.«
»Eine vollkommene Aufnahme«, sagt sie. »Ich weiß noch, daß ich mir die LP von dem Geld kaufte, das ich mit dem Austragen der Aftenposten verdiente.«
»Warum ist die Aufnahme vollkommen?« frage ich. »Stern ist technisch doch gar nicht vollkommen?«
»Ist er nicht …?«
Sie senkt plötzlich den Kopf, zeigt mir eine andere Art von Verlegenheit, die sie mir bis jetzt nicht gezeigt hat.
»Natürlich ist er gut«, sage ich. »Aber nicht makellos. Nur das habe ich gemeint.«
»Nun machst du mich noch nervöser. Muß ich jetzt Stern sein und du Zakin?«
»Beruhige dich. Wir werden Liljerot und Vinding sein. Niemand ist für die Vollkommenheit geschaffen. Ich habe das nicht so gemeint.«
Ich sehe, daß ich es noch schwerer für sie gemacht habe. Ich bereue, was ich sagte. Aber genauso meine ich es.
»So stimmt es also, was nach deiner Aussage Marianne von dir gesagt hat«, sagt Sigrun nachdenklich.
»Was denn?«
»Daß du in der Musik älter bist als sonst.«
Aber was ist Alter, denke ich, als ich Brahms’ A-Dur-Sonate vom Blatt spiele. Vom Blatt spielen kann ich gut. Der Alkohol ist kein Hindernis. Nicht zwei Schlucke. Obwohl sie mich etwas unsicherer machen, als wenn ich nüchtern wäre. Aber ich habe jetzt jahrelang mit den unterschiedlichsten Noten gearbeitet. Außerdem kenne ich die Musik. Sigrun steht dicht neben mir, so nah, daß ich nur die Hand auszustrecken brauche, um sie zu berühren. Vom ersten Takt an klappt es. Bevor das Hauptthema fertig moduliert ist, höre ich, daß sie auf einem höheren technischen Niveau ist, als ich erwartet hatte. Der Ton ist warm und rund. Sie phrasiert mit einer beinahe kühlen Eleganz, ohne sich in Sentimentalität zu verlieren, die größte Gefahr für jeden Brahms-Interpreten. Vielleicht lieben wir deshalb Stern und Zakin. Sie haben etwas Trockenes und Analytisches im Ausdruck. Das ist das Geheimnis, wenn man an die Romantik herangeht, sagte Selma Lynge immer. Nicht die eigenen Gefühle über das musikalische Werk stülpen. Nicht auf dem Podium stehen und hemmungslos weinen, wenn man Mahlers langsame Sätze dirigiert. Die Musik der Romantik hat genug Gefühle für ein langes Leben. Aber ein romantischer Ausdruck höhlt die Gefühle aus. Die Meister der Romantik werden lebendig in einem Gleichgewicht zwischen einer skeptischen Zurückhaltung und der tiefen Empfindung, die aus der Erfahrung entspringt.
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