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Die Frau im Tal

Die Frau im Tal

Titel: Die Frau im Tal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ketil Bjørnstad
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sie ihn erblickt, aber Bror Skoog schüttelt nur beruhigend den Kopf.
    »Bleibt sitzen«, sagt er. »Ihr paßt gut zusammen.«
    »Was willst du?« fragt Marianne ängstlich.
    Bror Skoog legt geheimnisvoll den Zeigefinger auf die Lippen.
    »Hört jetzt«, flüstert er.
    Wir zucken beide zusammen. Anja sitzt bereits am Flügel. Sie trägt den lila Pullover, den ich so liebte. Sie dreht sich nicht zu uns um. Sie begrüßt uns nicht. Sie ist in ihrer eigenen Welt. Marianne streckt die Hand nach der Tochter aus, wagt aber nicht, aufzustehen. Jetzt bestimmen Anja und ihr Vater.
    »Ihr sollt etwas ganz Außergewöhnliches hören«, sagt Bror Skoog stolz und lächelt der Tochter zu. Er kann nicht verbergen, wie freudig erregt er ist.
    Ich sehe, daß Anja nicht mehr so dünn ist wie bei ihrem Tod. Sie wirkt willensstark und beinahe triumphierend, als sie zu spielen beginnt.
    Der erste f-Moll-Akkord.
    Herrgott. Das ist Rachmaninows zweite Sinfonie, denke ich auf meiner Couch mit Marianne, verunsichert durch Bror Skoogs freundlichen Blick. Er hatte sich schließlich erschossen, weil ihm Marianne untreu geworden war. Wie kann er das jetzt so leichtnehmen?
    Aber er sieht nur seine Tochter.
    Anja Skoog spielt wieder. Sie spielt das Konzert, das icheinstudiere. Ich höre ihren kräftigen Anschlag. Die Akkordsäulen, die zu einem Crescendo werden, bevor das Orchester einsetzt.
    Da spielt sie auch noch das Orchester!
    Bror Skoog schaut mich beinahe mitleidig an. Ich werde ganz klein auf der Couch. Marianne merkt es und drückt meine Hand. Anja spielt das Unmögliche, vermittelt das dunkle, intensive, jagende Streicherthema zu Beginn des ersten Satzes und nimmt die schnellen, ornamentreichen Stellen, die für Rachmaninows Pianostimme charakteristisch sind, mit dazu.
    »Aber das ist unmöglich«, rufe ich fast empört von der Couch her.
    »Für Anja ist nichts unmöglich!« ruft Bror Skoog triumphierend zurück. » Dafür war es wert zu sterben. Ihr habt euch geirrt! Keiner von euch glaubte an sie!«
    »Wir glaubten zu sehr an sie!« protestiere ich, während Anja fortfährt, in rasender Geschwindigkeit sowohl die Klavierwie die Orchesterstimme zu spielen. »Sie brach unter dem Gewicht unserer Erwartungen zusammen!«
    »Sei still«, schnaubte Bror Skoog. »Hör jetzt zu!«

    Anja Skoog spielt Rachmaninows c-Moll-Konzert. Wir sitzen im Haus des Todes. Das Skoog-Haus am untersten Ende des Elvefaret außerhalb von Oslo. In dem Haus, das ich am meisten liebe. In dem Haus, zu dem ich die Schlüssel habe, sowohl im Traum wie im Wachzustand. Bror Skoog hat sich auf einen der Corbusier-Stühle gesetzt. Er wirkt froh und erleichtert. Marianne sitzt neben mir und zeigt keine Gefühle. Als ich auf ihren Bauch schiele, sehe ich, daß sie immer noch schwanger ist. Weiß Anja, daß sie bald eine Schwester oder einen Bruder bekommt? Während Anja spielt, wird mir klar, daß wir in diesemHaus wohnen, alle zusammen, obwohl ich der einzige Lebende bin. Bror Skoog kann nicht stillsitzen, während die Tochter spielt. Er steht auf und fängt an, im Wohnzimmer Ordnung zu machen, rückt Bilder gerade, überprüft die in alphabetischer Reihenfolge stehenden Schallplatten im Regal. Dann geht er in eine Ecke hinter dem Flügel. Dort steht die Schrotflinte, mit der er sich erschoß. Dort liegt der Strick, mit dem sich Marianne erhängte. Er beginnt, den Strick aufzurollen. Er ist ein Ordnungsmensch. Er nimmt den Strick und die Schrotflinte und huscht auf Zehenspitzen durchs Zimmer, um Anja beim Spielen nicht zu stören. Wir hören, daß er die Tür zur Kellertreppe öffnet, aber das macht nichts. Er ist ja schon tot. Es kann nichts Schlimmes mehr passieren.
    Und Anja sitzt am Flügel und spielt mit all den heftigen Gefühlen, die sie nicht hat. Das ist beeindruckend und bewegend. Sie bringt das Orchester dazu, gewaltig und machtvoll zu klingen, und spielt die Solostimme punktgenau, ohne Fehler.
    Bror Skoog kommt wieder aus dem Keller. Jetzt beginnt er, im Speisezimmer zu decken. Ich sehe das Besteck, das er bringt. Die erlesenen Kristallgläser aus Orrefors. Er deckt für uns vier. Ich gehöre jetzt zur Familie, obwohl ich noch am Leben bin. Es soll ein Festessen werden. Heute abend feiern wir Anjas großen Triumph. Ihr ungeheurer und trotzdem so erwarteter Fortschritt.
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