Die Frau im Tal
des Vorfalls.
»Das hat für sie keine Bedeutung«, sagt er danach. »Auf dieser Seite der Grenze können wir wenig ausrichten.«
»Scheußlich.«
»Wir leben hier oben und nehmen das nicht so ernst, weil die Sonne scheint, weil Elche und Raubtiere die Grenze passieren, ohne um Erlaubnis zu fragen«, sagt Eirik Kjosen.
»Und wenn wir hinaus aufs Eis gegangen wären?« frage ich.
»Sie wären gekommen und hätten uns eingesperrt. Für einige Stunden oder auch Tage. Man hätte in der Zeitung über uns berichtet.«
»Sigrun hätte sich Sorgen gemacht«, nickt Gunnar Høegh.
»Das auch.«
Wir versuchen, das unangenehme Gefühl abzuschütteln. Der Anblick der zappelnden Gestalt will mir nicht aus dem Kopf. Alles ging so schnell.
»Dann kann ich also über Nacht bleiben?« sagt Gunnar Høegh mit fragendem Blick zu Eirik.
»Selbstverständlich. Wußtest du nicht, daß Sigrun nach Kirkenes gefahren ist?«
»Doch, sie rief mich an, um mir mitzuteilen, daß sie dieganze Woche in Kirkenes sein wird. Aber ich wollte lieber hierher. Mußte einfach weg.«
»Ich bin immer weg«, lächelt Eirik Kjosen. »Du kannst bleiben, solange du willst.« Er steht am Herd, brät für alle Spiegeleier und Corned beef.
Gunnar Høegh begegnet meinem fragenden Blick.
»Wenn ich hierbleibe, schlafe ich gewöhnlich auf der Couch«, sagt er erklärend. »Ich logiere mich auch in der Turiststation ein, aber seit Vivian tot ist und ich selbst beinahe ins Gras gebissen hätte, hat das Wort Zuhause eine neue Bedeutung bekommen. Verstehst du, was ich meine?«
Ich nicke. Ich habe Schwierigkeiten, mir vorzustellen, daß dieser feine Herr Direktor auf einer abgewetzten Couch übernachtet. Eirik kommt mit den Tellern, stellt sie vor uns auf den kleinen Eßtisch, an dem wir sitzen. Gunnar Høegh hat auch jemanden verloren, denke ich. Fühle ich mich trotz aller Ablehnung deshalb zu ihm hingezogen? Er läßt mich nicht los, so wie auch ich ihn offenbar irgendwie nicht loslasse. Beide haben wir jemanden verloren. Keinen beliebigen Menschen, sondern den, der uns am nächsten stand. Außerdem haben wir uns beinahe selbst verloren. Was verbindet uns mit Eirik Kjosen? Daß er noch niemanden verloren hat, aber befürchtet, genau das könnte geschehen? Daß wir Mitspieler seiner Angst sind? Figuren, die von außen kommen und denen er in seiner Küche Spiegelei mit Corned beef serviert?
Gunnar Høegh mustert mich aufmerksam. Er ahnt meine Gedanken.
»Hier ist mein Zufluchtsort«, sagt er. »Ich weiß, was du durchgemacht hast. Wenn man beinahe alles aufgegeben hat, wenn nichts mehr eine Rolle spielt, erkennt man, was man hat und was man nicht hat.«
»Sigrun war Gunnars Ärztin, als er mit dem Schlimmsten rechnen mußte«, sagt Eirik. Er merkt nie, wie unpassend es ist, wenn er das Gespräch von anderen unterbricht.
»Sie rettete mein Leben.«
Ich verstehe plötzlich, was er mir zu erklären versucht. Eirik versteht es nicht. Das sehe ich ihm an. Für ihn ist Gunnar der Freund, der ihn aus seinem Alltag holt.
Wir essen. Eirik hat eine Flasche Milch auf den Tisch gestellt. Wir trinken aus den schäbigen Gläsern des Internats.
»Du mußt diesem jungen Talent deine Welt zeigen«, sagt Gunnar Høegh bestimmt.
»Nenn mich bitte nicht Talent.«
»Du bist talentiert.« Gunnar Høegh macht eine abwehrende Handbewegung, er will keinen Protest hören.
Ich blicke mich im Zimmer um, während er redet. Jemand ist hier. Marianne ist hier. Sie sitzt wieder neben mir. Nach mehrmonatiger Pause. Sie streichelt meine Hand. Sie möchte mir etwas erzählen. Ich genieße ihre Nähe, den Gedanken, daß es sie gibt. Ich gleite in eine andere Welt. Sie sehen es, lassen mich aber gewähren. Sie meinen, es habe mit dem Schock nach den Schüssen am Fluß zu tun. Sie meinen, ich hätte zuviel getrunken. Sie meinen, ich höre nicht, was sie reden. Sie meinen, ich säße mit geschlossenen Augen da und schliefe. Gunnar Høegh beugt sich über den Tisch und hat wieder dieses bleiche, kränkliche Gesicht, das ihn so attraktiv macht. Sogar in diesem Zustand spüre ich seine Ausstrahlung.
»Vielleicht bin ich deshalb heute abend hergekommen«, sagt er. »Um mit dir zu reden.«
»Mit mir reden? Worüber?« sagt Eirik ausweichend.
»Über Sigrun.«
»Wir können immer über Sigrun reden.«
»Sie braucht Hilfe. Merkst du das nicht? Daß sie ohne Halt ist?«
»Wie meinst du das?«
»Daß sie schwebt. Daß sie nicht mehr aus noch ein weiß. Daß irgend etwas passiert
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