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Die Frau im Tal

Die Frau im Tal

Titel: Die Frau im Tal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ketil Bjørnstad
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Mutter.
    Ich liege hilflos zappelnd auf dem Eis. Ich merke, daß ich gelähmt bin. Ich weiß, daß ich nie mehr werde gehen können. Und wenn der Frühling kommt, schmilzt das Eis. Da werde ich ertrinken.
Konsequenz der Gefühle
    Ich werde zwanzig Jahre alt. Keiner in der Internatsschule weiß von meinem Geburtstag. Es ist ein ganz gewöhnlicher Dienstag im diffusen Licht der Polarnacht. Ich sage es niemand.
    Aber am Nachmittag gehe ich hinauf zum Blockhaus. Eirik hat drei Stunden Sport mit den Jungs. Da haben Sigrun und ich Zeit für uns. Mariannes kleine Schwester. Sie weiß nicht, wie sehr sie mich verletzt hat mit dem, was sie sagte. Warum, glaubst du, lasse ich zu, was du mit mir machst. Als verhalte sie sich nur um meinetwillen so. Der Satz schuf einen Abstand zwischen uns. Ich wage nicht mehr, in Gedanken weiterzugehen. Wir finden einander in der Musik. Wir verschieben unsere Gefühle und Leidenschaften in den abstrakten Raum, in dem die Töne lebendig sind. Wir gehen höflich miteinander um, respektieren gegenseitig unsere Sehnsucht. Wir spielen Brahms. Jetzt spielen wir alle drei Sonaten. Wir spielen Franck. Wir spielen Beethoven. Wir brauchen keine Worte. Die Musik genügt uns völlig. Wir offenbaren uns in der Musik. Wir können unsere ganze Persönlichkeit hineinlegen. Wir können vortreten oder uns zurückziehen.
    Sigrun erkennt mehr und mehr, wie gut sie ist. Sie ist für die Musik geschaffen, ist auserwählt. Es ist noch nicht zu spät. Sie kann jederzeit Berufsmusikerin werden. Und wenn sie sich keine Solistenkarriere erkämpfen will, könnte sie in einem Orchester unterkommen.
    Ich habe viel gelernt, seit ich mit ihr zusammen spiele. Allein am Flügel habe ich aufgehört, mir zuzuhören. Jetzt werde ich gezwungen, alles anzuhören, was ich mache. Wenn sie ritardando ankündigt, muß ich ihr folgen. Dasselbe gilt bei den Stärkegraden. Und ich höre, daß siebesser ist als ich. Ihre Lösungen sind überzeugender als die, die ich gewählt hätte.
    Danach ist es wie ein Ritual. Wir gehen hinüber zur Couch. Ein eiskalter Schluck Wodka aus der Thermosflasche. Unser gemeinsames Laster, danach haben wir rote Wangen und glänzende Augen.
    Ich küsse sie in der Gewißheit, daß uns an dieser Stelle von außen niemand sehen kann. Nun taste ich mich vor zu ihr. Eirik kann jeden Moment kommen. Aber wir haben keine Angst. Es dauert nur eine halbe Sekunde, das zu vertuschen, was wir tun. Sie ist genauso besessen von diesem Ritual wie ich. Und sie erwartet, daß es stattfindet. Wir brauchen dazu nicht einmal zu liegen. Ich weiß genau, wohin ich will. Was ich tun muß. Sie läßt es zu.
    Dieses Geheimnis gehört uns allein.

    Und Geheimnisse verbinden Menschen. Wir kosten etwas aus, ohne nach dem Preis zu fragen. Ich kenne den kürzesten Weg hin zu ihr. Fünfzehn Minuten in meinem Zimmer, mehr brauchen wir nicht. Als würde es ihre Erregung steigern, daß sie von sich aus nichts bringen muß. Das Rollenmuster ist auf den Kopf gestellt. Ich bin der perfekte Liebhaber. Ich verlange keinerlei Einsatz von ihr. Ich verlange nicht einmal, sie nackt zu sehen.
    Aber diese Art von Verhältnis führt nicht zu einer größeren Vertrautheit zwischen uns. Als habe sie sich einfach an die Situation gewöhnt. Als würde ich durch das, was ich treibe, ihr Zusammenleben mit Eirik leichter machen.

    So vergeht ein Winter.
    Wir feiern zusammen Weihnachten im Blockhaus, Eirik, Sigrun und ich. Gunnar Høegh ist auch da, aber er wirkt abwesend und erschöpft und geht früh zu Bett. Er wohntwährend der Feiertage in der Turiststation und kommt spät zum Frühstück. Wir spielen das »Weihnachtsoratorium« von Bach auf der Stereoanlage. Sigrun möchte nicht, daß sie und ich für Eirik und Gunnar spielen. Sie sagt, wir benötigten mehr Zeit, wir übten noch und seien noch nicht auf ein Debüt vorbereitet. Eirik und Gunnar diskutieren über den kalten Krieg und die Grenzpolitik. Sigrun und mich ermüdet das, und jeder geht in sein Bett.

    Im Januar werden wir vom Alltag mitgerissen. Es ist fast so, als sei ich zum festen Inventar im Blockhaus geworden. Ständig frage ich mich: Weiß Eirik etwas? Durchschaut er, was Sigrun und ich treiben?
    Sigrun hat angedeutet, daß sie und Eirik nicht allzu viele intime Momente haben. Ich glaube ihr nicht. Ich denke, sie sagt das, um mich zu trösten, weil das Sexuelle zwischen uns so intensiv ist und trotzdem einseitig. Das kann nicht anders sein, solange sie sagt, daß sie mit Eirik leben wolle, daß

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