Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Frau im Tal

Die Frau im Tal

Titel: Die Frau im Tal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ketil Bjørnstad
Vom Netzwerk:
läuft die linke Wange hinunter. Ich höre zu spielen auf. Aber sie versucht, weiterzumachen, geht mit dem Ton auf eine andere Saite über, möchte die Melodie beenden. Es sind nur noch einige Takte. Sie ist krebsrot im Gesicht, als würde sie vor einem großen und anspruchsvollen Publikum stehen. Aber da bin nur ich. Und mich stört es nicht, daß die Saite riß. Wir können den Satz noch einmal spielen, aber sie will so tun, als sei nichts geschehen. Sie will eine Oktave tiefer zum Ende kommen. Aber da ist viel von dem Zauber verschwunden.
    Ich beginne wieder zu spielen, vor allem, um ihr zu helfen, um es ihr leichter zu machen. Aber die gerissene Saite ragt senkrecht in die Luft. Jeder andere Geiger hätte aufgehört und erklärt, daß etwas Fatales passiert sei. Nicht so Sigrun Liljerot. Sie spielt die letzten Vivace-Takte, beendet mit Bravour. Ich helfe ihr, so gut ich kann, wir schließen gemeinsam mit dem Schlußakkord ab. Aber kaum ist die Musik im Raum verklungen, wirft sie Instrument und Bogen in den Geigenkasten und geht zum Fenster, ohne ein Wort zu sagen.
    Ich stehe vom Klavier auf, folge ihr, stelle mich direkt hinter sie und schaue in dieselbe Richtung, hinunter zu Tanja Iversen und den andern Schülern, die vor dem Internat herumstehen. Ich wage nicht, sie anzufassen,zwinge mich dann doch dazu, lege meine Hände sanft auf ihre Schultern, massiere die steifen Muskeln mit Daumen und Zeigefinger. Sie läßt es zu.
    »Es war nicht wegen der Saite, die riß«, sagt sie.
    »Was war es dann?«
    »Daß sie genau bei dem Ton riß.«
    »Irgendwann mußte sie wohl reißen.«
    »Im Pianissimo? An der intimsten Stelle? Bei diesem Ton? Seit Wochen freue ich mich darauf, ihn zu spielen!«
    Ich weiß keine Antwort. Wären wir im Krankenhaus gewesen, wäre ich ihr Patient und sie meine Ärztin, wüßte sie, was zu tun ist. Jetzt sinkt sie hilflos auf die Couch, den Kopf in die Hände gelegt.
    Ich stehe ratlos da.
    »Glaubst du, es war der böse Wille von dunklen Mächten am Werk?« sage ich schließlich.
    Sie schaut auf zu mir, ein bleiches, verweintes Gesicht.
    »Keine Mächte von außen«, sagt sie mit einem hilflosen Lächeln und wischt sich das Blut im Gesicht weg. »Das Scheitern, diese Fähigkeit, immer wieder Fehler zu machen, sitzt nur in mir selbst.«

    Mich schaudert.
    »Du weißt nicht, wie wundervoll du spielst«, sage ich und setze mich neben sie. »All das andere …«
    »Ja, das war schon in Ordnung«, sagt sie und zuckt die Schultern, nicht daran interessiert, was ich sage.
    »Mehr als in Ordnung. Du bist eine Vollblutmusikerin. Ich begreife nicht, wie du es geschafft hast, in all den Jahren, in denen du soviel anderes zu tun hattest, dieses Niveau zu halten.«
    »Vielleicht nur deshalb, weil ich so eigensinnig bin«, sagt sie mit dem Kopf in den Händen.
    »In welcher Hinsicht?«
    »Ich wollte nicht aufgeben. Die Musik sollte mein Geheimnis sein. Ich konnte ohnehin nicht mit Marianne konkurrieren. Sie war diejenige, mit der alle zusammensein wollten. Als sie und meine Eltern versuchten, mir die Musik wegzunehmen, raubten sie mir auch mein Selbstvertrauen. Ich gewann es erst wieder, als ich hier herauf in die Finnmark kam. Da begriff ich allmählich, daß ich eine eigene Identität habe. Da war ich nicht mehr nur die anonyme kleine Schwester von Marianne. Und das war das schlimmste zwischen Marianne und mir: Ich habe immer gedacht, sie hätte mich deshalb nicht unterstützt, weil sie befürchtete, meine Musikerkarriere würde dazu führen, daß die Aufmerksamkeit, die sie bekam, auf mich gelenkt würde.«
    »Hatte sie wirklich ein so starkes Bedürfnis, beachtet zu werden?«
    »Ja. Hast du das nicht gemerkt?«
    »Nein, nicht so.«
    »Vielleicht, weil sich da, als du ihr begegnet bist, zuviel in ihrem Leben ereignete. Aber damals, als sie jung war … Sie strahlte, und ich fühlte mich immer in ihrem Schatten. Sogar in der schlimmen Zeit mit der Abtreibung und alldem verlangte sie auf ihre scheinbar bescheidene Weise alle Aufmerksamkeit.«
    »Du hast dich also hier im hohen Norden niedergelassen, um der Rolle der ewigen kleinen Schwester zu entfliehen?«
    Sie antwortet nicht. Ich habe einen wunden Punkt berührt, der nur mit ihr und Eirik zu tun hat.
    Sie sitzt neben mir, den Kopf in den Händen. Sie ist zutiefst enttäuscht. Sie ist über ihr ganzes Leben enttäuscht. Ich ziehe sie zu mir. Sie liegt neben mir. Es ist unpassend,aber ich tue es, kann es nicht seinlassen. Sie schließt die Augen, tut so,

Weitere Kostenlose Bücher