Die Frau im Tal
sie mit Eirik ein Kind haben wolle.
Wer bin ich dabei? denke ich. Bin ich ihre Vergangenheit? Ihre Jugend? Erlebt sie mit mir, wie sie sein könnte, aber nicht ist und trotzdem gerne wäre? Genießt sie den Gedanken, daß ich es mit ihr mache und nicht mit Marianne? Oder bin ich schlicht und einfach der perfekte Begleiter ? Sowohl in der Musik wie im Privaten? So privat, daß sie das weder mit mir noch mit Eirik teilen kann. Vielleicht bin ich nur ein beliebiger Lustknabe, der sich jederzeit telefonisch ordern läßt.
Eingekreist
Mitte Januar 1972 steht auf einmal Tanja Iversen in meinem Zimmer und bringt mir das Winter- und Frühjahrsprogramm des Jazzclubs in Kirkenes.
»Ich dachte, es würde dich vielleicht interessieren«, sagt sie.
Tanja und ich sind uns nicht gerade hinterhergelaufen seit der sogenannten Klavierstunde. Sie ist stolzer als alle anderen Mädchen, denen ich begegnet bin. Sie ist die einzige, die ahnt, was zwischen mir und Sigrun läuft. Trotzdem will ich ihr gerne helfen, sie anregen, tiefer in die Musik und das Improvisieren einzudringen. Aber da blockt sie ab. Vielleicht, weil sie intuitiv weiß, daß ich nicht über die Freiheit verfüge, die sie sich eroberte, als sie sang. Sie weiß, daß mein Bezug zur Musik darin besteht, Noten zu pauken. So will sie es nicht. Außerdem hat sie den Milchbart, mit dem sie eine Band gründen und ins Bett gehen kann. Tanja hat in letzter Zeit angefangen, sich anders zu kleiden. Schwarz und locker hängen die Sachen an dem langen Körper. Sie hat das Zeug zu einem Star, denke ich, sieht bereits aus wie die jungen Dinger auf den Pop-Zeitschriften. Marianne Faithful. Christine McVie. Patti Smith. Marianne schwärmte für sie, sagte, daß Frauen wie Männer neue, emanzipierte Idole brauchen, um die Gesellschaft zu verändern.
Ich lese die Liste der Musiker, die im Jazzclub von Kirkenes auftreten werden. Beeindruckend. Calle Neumanns Quartett. Svein Finnerud Trio. Knut Riisnæs und Arild Andersen. Jon Balke.
»Sieh mal an. Gabriel Holst kommt!« sage ich. »Das Njål Berger Trio. Urban Schiødt am Schlagzeug. Die alte Zusammensetzung.«
»Wer ist Gabriel Holst?«
»Ein Freund von mir«, sage ich.
»Na so was, du kennst Jazzmusiker?«
»Na ja, kennen. Wir liefen uns zufällig über den Weg. Gabriel ist ein sehr geselliger Typ. Wir könnten zusammen hingehen. Wenn ich ein gutes Wort für dich einlege, ist es nicht unmöglich, daß er dich am Ende des Konzerts auf die Bühne holt.«
»Was soll ich singen?«
»Was du willst. Das ist Free Jazz.«
»Wirst du spielen?«
»Vielleicht«, sage ich und merke, daß mir diese Vorstellung seltsam und etwas fremd ist. Gabriel wollte ja, daß ich frei werde, selbständig werde. In tiefster Seele war das meine Motivation, in den Norden zu reisen. Doch jetzt fühle ich mich unfreier als je zuvor. Außerdem spiele ich besser Klavier, als ich es noch vor kurzem für möglich gehalten hätte. Abgesehen von den intensiven Momenten mit Sigrun lenkt mich nichts ab, und auch wenn wir zusammen sind, ist die meiste Zeit die Musik das wesentliche. Ich habe zwar einige Skitouren mit Eirik unternommen und manchmal auch mit Gunnar Høegh, wenn er an den Wochenenden auftaucht. Ich habe die Konzerte gegeben, die ich den Schülern versprach. Jeden Dienstag und Donnerstag wird das Klavier von sechs kräftigen und nach Schweiß riechenden Jungs in den Allzweckraum getragen. Diese Konzerte locken auch Leute von der Turiststation und andere Bewohner des Tals an. Ich spiele Grieg, spiele alle lyrischen Stücke und Volksweisen vom Blatt. Dann verbinde ich sie mit Präludien von Rachmaninow. Das hat eine kolossale Wirkung. Das Russische und das Norwegische in heftigen Gefühlen vereint. Rektor Sørensen ist besonders begeistert, weil er diese Auswahl des Repertoiresals Protest sieht gegen die politische Stimmung hier im hohen Norden, gegen die Unversöhnlichkeit von Nato und Warschauer Pakt, gegen die Unmenschlichkeit des kalten Krieges. Und all das, zusätzlich zu meinen Übungsstunden, hat mich technisch sicherer gemacht, als ich es für möglich hielt. Dazu kommt ein reiferer Ausdruck, weil mich Sigrun zwingt, zuzuhören und die Wirkung jedes Tons, den ich anschlage, zu bedenken.
Aber frei zu spielen im Jazzclub von Kirkenes? Improvisieren mit Tanja?
Eher nicht, denke ich.
Sigrun und Eirik wollen auch mitkommen. Ich sitze eines Abends bei ihnen und erzähle von Gabriel Holst, sage, daß er für mich ein besonderer Mensch ist, bin aber
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