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Die Frau im Tal

Die Frau im Tal

Titel: Die Frau im Tal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ketil Bjørnstad
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Trotzdem spüre ich, daß das Herz heftig klopft. Ich bin es nicht gewohnt, mit jemandem zusammen zu spielen. Seit ich mit Tibor und Melina Trios von Brahms spielte, habe ich nicht mehr mit anderen musiziert. Da war alles Chaos in meinem Kopf. Ist es jetzt besser? Zum erstenmal spiele ich imDuo. An sich absurd, daß ich immer für mich geblieben bin. Sigruns Violintöne sind intensiv und voll. Wer da neben mir steht und spielt, das ist ein Vollblutmusiker. Ich kann hören, daß sie geübt hat. Rein technisch ist sie auf einem professionellen Niveau. Es ist unbegreiflich, daß eine Frau, die mit solcher Selbstsicherheit und Schönheit spielen kann, nicht Berufsmusikerin wurde. Und in dem Augenblick wird mir klar, daß sie mir genau das zeigen will, daß sie diese Seite von sich niemandem mehr gezeigt hat, seit sie den Kampf mit der Familie aufgegeben und Medizin studiert hatte. Mit Ausnahme von Eirik, der sich als ihr fester musikalischer Begleiter höflich zurückgezogen und mir den Platz überlassen hat.
    Es ist ein merkwürdiges Gefühl, an diesem alten Schiedmayer-Piano zu sitzen und diese Musik zu spielen, an der Grenze zur Sowjetunion in dieser rücksichtslosen Natur, in dieser brutalen Schönheit. Wir spielen die A-Dur-Sonate, eine Lieblingssonate von uns beiden. Das ist kein Zufall. Die Sonaten in G-Dur und in d-Moll sind wesentlich publikumsfreundlicher. Die G-Dur-Sonate hat die Melodien und die d-Moll Sonate hat das Leidenschaftliche und Dramatische. Und was hat die A-Dur-Sonate? Sie hat das Undefinierbare, in dem Sigrun und ich uns in dem Moment finden, in dem wir hörend zu ein und demselben Ausdruck gelangen. Zwei Menschen, die dasselbe wollen, die sich unterordnen, um etwas zu schaffen, das größer ist als sie selbst. Ich schiele hinüber zu ihr, während sie spielt. Es ist rührend zu beobachten, welche Hingabe sie nicht nur in die Musik legt, sondern in diese Situation, ihr Lieblingswerk spielen zu dürfen, das in seiner zurückhaltenden Melancholie bei uns beiden die innersten Gefühle trifft. Sie schließt die Augen, ist äußerst konzentriert. Sie spielt nicht, um zu imponieren. Sie will einzig und allein zeigen, daß siein die Musik gehört. Der sie ihr Leben weihen wollte. Eine unglückliche Liebe, die trotzdem nicht verloren ist. Wir beenden den ersten Satz ohne Fehler.
    »Bravo«, sage ich. Aber dann merke ich, daß sie keine Pause will. Sie schüttelt den Kopf. Sie will fortfahren. Wir sind schnell soweit. Der einzigartige zweite Satz »Andante tranquillo-Vivace di piú«. Ich denke plötzlich an Kjell Hillvegs Worte vom Lächeln durch Tränen. Diese Musik hat die Trauer als Ausgangpunkt, verliert sich aber nicht in der Verzweiflung. Das war Mariannes Dilemma, im Unterschied zu Nietzsche, der statt der Trauer das Wollen, die Sehnsucht betonte. Sehnsucht, Lust, sie wollen »tiefe, tiefe Ewigkeit«. Sind wir jetzt in der Ewigkeit? In der Ewigkeit, die Nietzsche meinte, daß sie Sehnsucht und Lust will? Sind wir in Sigruns Sehnsucht nach der Musik, nach einem Kind, nach allem, was sich in ihrem Leben noch nicht erfüllte? Sind wir in meiner Sehnsucht nach den Toten, nach Sigrun, nach einer Erklärung für all diese Ereignisse, die meine Jugend so dramatisch prägten, ohne daß ich mich deshalb erwachsener fühle?
    Wir spielen, als würden wir uns seit Jahren kennen, als hätten wir eben diese Sonate in den Konzertsälen Europas gespielt oder als arme Studenten in einer Dachkammer in Paris oder Wien geübt. Wir nähern uns der letzten Tranquillo-Sequenz, die von F-Dur nach D-Dur hinübergleitet. Eine der hellen Tonarten. Ja, denke ich, jetzt völlig in sie verliebt, überwältigt von den Facetten ihrer Persönlichkeit, dem Ernst und der Verspieltheit; von der Fähigkeit, eine nüchterne, praktische Distriktsärztin zu sein und zugleich eine Musikerin von höchstem Format, die als Amateurin nie die Aufmerksamkeit bekommt, die sie verdient.
    Nun setzt sie zum Quint-Ton an, dem hohen, magischen A, der so lange klingen muß, sich ausbreitet, dem Sinn undSchwerpunkt der ganzen Sonate. Sigrun Liljerot hat die volle Kontrolle. Sie formt den Ton, ohne daß er zu intensiv wird. Ihr gelingt dieser dünne, flageolettartige Klang, den ebendieser Ton haben muß, um hypnotisch zu werden. Sie beginnt im Pianissimo. Der Bogen springt nicht einmal. Der Ton, den sie formt, nähert sich der Vollendung.
    Da reißt die Saite.

    Es ertönt ein Knall. Sie wird im Gesicht getroffen. Ein feiner, dünner Streifen Blut

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