Die Frau im Tal
morgen früh Sport mit den Jungs.«
»Ich fahre mit dir«, sage ich zu Eirik, ohne zu wissen, warum. Ich merke, daß Sigrun unsicher wird, als ich es sage. Will ich mich etwa an ihr rächen? Aber rächen weshalb? Daß wir mit unserer Beziehung nicht weiterkommen?
Zum erstenmal weise ich sie zurück.
Als sei mir bewußt, daß ich es bereuen würde.
»Höchste Zeit, ins Konzert zu gehen«, sagt Eirik mit deutlichem Unbehagen über die plötzliche Stille zwischen uns.
Paradox der Freiheit
Der Jazzclub von Kirkenes. Eine Gruppe Enthusiasten und Musikliebhaber steht am Eingang und kassiert das Geld für die Eintrittskarten. Und da kommt Gunnar Høegh. Er umarmt Sigrun und Eirik. Er umarmt mich. Er sieht kränker aus als sonst. Etwas an diesem gequälten Gesicht beeindruckt mich. Ich sehe mich selbst irgendwo in diesem Blick. Vielleicht, weil wir beide Witwer sind? Kann man trotz verschiedener Lebensstadien dasselbe empfinden? Sollten er und ich uns vielleicht zusammensetzen und über das reden, was wir verloren haben, über das, was esuns trotzdem möglich macht, weiterzuleben? Hat seine Krankheit mit seiner Trauer zu tun? Könnte ich dieselbe Krankheit bekommen? Ist Trauer gefährlich? Sollte ich ihm von meinem Selbstmordversuch erzählen? Bei der Art, wie er mir väterlich den Arm um die Schultern legt, bei der Zuneigung, die er immer für mich gezeigt hat, erwacht die Sehnsucht nach meinem leiblichen Vater. Herrgott, ich habe ja einen Vater! Aber wo ist er? Weit weg bei seiner Freundin Ingeborg.
Ich befreie mich aus Gunnar Høeghs gutgemeinter Umarmung. Drinnen im Lokal sitzt Gabriel Holst und ißt zusammen mit Njål Berger und Urban Schiødt Fleischpfanne mit Reis auf Kosten des Jazzclubs. Wie halten sie es nur miteinander aus, denke ich, als ich sie reden und dann wieder in die Luft starren sehe. Dann dreht sich Gabriel Holst um. Er merkt, daß ich im Raum bin. Er grinst, als er mich sieht.
»Aksel!« ruft er, steht auf, breitet die Arme aus und läßt Bier und Aquavit stehen. »Ich wußte doch, daß du dich irgendwo hier oben verkrochen hast!«
Wir umarmen uns wie uralte Freunde.
Ich stelle ihn den andern vor. Zuerst Sigrun. Er begreift sofort, wer sie ist. Er mustert sie neugierig. Noch neugieriger wirkt er, als er Eirik begrüßt. Erst bei Gunnar Høegh wirkt er wieder normal. Das übliche Phlegma.
»Ich verdinge mich gerne als Hofmusiker von Sydvaranger«, grinst er.
»Schick mir ein Angebot«, sagt Gunnar Høegh.
Dann richtet Gabriel Holst den Blick auf Tanja Iversen.
Sie saugt ihn förmlich an. Das Magnetfeld ist so stark, daß der arme Milchbart instinktiv einen Schritt zur Seite macht.
»Sie ist eine äußerst begabte Sängerin«, sage ich. »Du solltest sie einmal im Laufe des Abends auf die Bühne holen.«
Gabriel hört zu, wendet aber den Blick nicht von Tanja. Arme Jeanette Wiggen, denke ich.
»Ach so«, sage ich und stelle auch den Milchbart vor. »Kurt«, sage ich. »Ein phantastischer Schlagzeuger.«
Der Milchbart grinst verlegen.
»Ich zweifle nicht daran«, sagt Gabriel Holst ernst.
»Ich auch nicht«, sage ich und versetze dem Milchbart einen aufmunternden Klaps auf die Schulter.
»Das schaffst du mit links«, flüstere ich ihm zu.
Und da ist Rebecca.
Sie sitzt ganz hinten in dem dunklen Raum mit großen, blauen Telleraugen.
»Eine echte Klassefrau«, sagt Sigrun und sticht mir den Zeigefinger in die Nieren. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.
»Rebecca«, sage ich. Denn gerade jetzt fordert sie meine ganze Aufmerksamkeit.
»Nicht einmal eine kleine Postkarte!« sagt sie vorwurfsvoll, als sie aufsteht und mich umarmt. Ein kurzer Wollrock, grüner Pullover und dünne Lederjacke. Alles an Rebecca wirkt teuer. Es ist unbegreiflich, daß sie und Christian ausgerechnet meine Wohnung mieten wollten.
»Wie hätte ich das wagen sollen?« sage ich. »Er hätte dich krankenhausreif geschlagen.«
»Sag das nie mehr!« sagt sie wütend und kneift mich in die Hand, daß es schmerzt.
Rebecca Frost. Die Reederstochter. Die Frau mit Verbindungen. Sie begrüßt Gunnar und Sigrun wie alte Bekannte.Sie fordert sie auf, sich zu ihr zu setzen. Sie bestellt beim Kellner Wein und Bier. Unbegrenzte Mengen. Rebecca, denke ich, und mir wird innerlich warm. Rebecca, die auf dem Podium über ihr Kleid stolperte. Rebecca, die trotzdem opus 109 von Beethoven spielte. Rebecca, die ihre Karriere als Pianistin abbrach, um Ärztin zu werden. Rebecca, die glaubte, mit Christian Langballe ihr Glück zu
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