Die Frau im Tal
als ob nichts geschehe. Ich mag auch nicht, was geschieht. Vielleicht bin auch ich enttäuscht. Vielleicht bin ich über mein eigenes Leben ebenso enttäuscht. Dieses Gefühl, sich abzumühen, nie ans Ziel zu kommen, im Leben von einer Art Wahnsinn vorwärtsgetrieben zu werden. Gedanken und Wünsche, die ich beginne abzulehnen, auch deshalb, weil ich nie mehr das Gefühl habe, ein anständiges Tagewerk vollbracht zu haben. Nie genug geübt, gedacht, studiert, nie mich so entwickelt zu haben, wie man es von einem Jugendlichen eigentlich erwartet. Statt dessen liege ich neben Sigrun und denke, daß ich noch nie vorher einem Glück, das vielleicht dauern könnte, so nahe gewesen bin. Völlig benommen, merke ich, daß ich sie erregen kann, daß sie mich auch diesmal nicht stoppt, daß ich sie in meiner Hand halte wie ein kleines Vögelchen, das sie jetzt ist und auf das ich mich konzentriere.
»Aksel …« sagt sie. Aber dann überlegt sie es sich anders. Als habe sie keine Zeit mehr für das, was sie sagen will.
Sie dreht sich zu mir. Kommt mir entgegen. Ein beinahe lautloser, heimlicher Seufzer.
Danach bleiben wir mäuschenstill liegen, alle beide.
»Du wolltest gar nicht mich«, sagt sie schließlich. »Sondern Marianne.«
»Warum sagst du das?« frage ich empört.
»Weil Marianne für dich immer am wichtigsten sein wird. Weil du das Schönste mit ihr erlebt hast. Das wiederholt sich mit keiner anderen. Man kann das Schönste nicht zweimal erleben. Dann ist es nicht mehr das Schönste.«
»Müssen wir jetzt wirklich von Marianne reden?«
»Ja. Weil sie der Grund ist, warum du hier bist. Begreifstdu das nicht? Warum, glaubst du, lasse ich zu, was du mit mir machst? Weil ich Mariannes kleine Schwester bin. Weil ich immer Mariannes kleine Schwester sein werde.«
Die Grenze
In dieser Nacht träume ich, daß ich unten am Pasvikfluß stehe, auf norwegischer Seite, und weiß, daß ich gleich hinausmuß auf das Eis, daß ich die Grenze überschreiten muß. Rachmaninow steht auf der anderen Seite und schaut mir erwartungsvoll entgegen. Er hat den langen Mantel an und die russische Pelzmütze. Er raucht eine Zigarre. Ich weiß, daß er der beste Pianist der Welt ist. Aber ich weiß auch, daß er tot und nicht mehr zeitgemäß ist. Die Art, wie er spielt, ist passé. So etwas mag heute niemand mehr hören. Die, die jetzt seine Musik vermitteln, verstehen ihn also nicht. Als würde man die »Mona Lisa« übermalen, die Farben auffrischen, das Gesicht schlanker machen, wie es heute Mode ist, und das Ganze trotzdem als einen da Vinci ausgeben.
Warum steht er da? denke ich. Was will Rachmaninow von mir?
Da merke ich, daß ich nicht allein bin. Andere Menschen sind da, stehen wie reglose Schatten zwischen den Baumstämmen. Ich spreche sie an, aber sie antworten nicht. Da wird mir klar, daß sie mich bewachen. Sie wollen, daß ich etwas tue. Oder sein lasse. Eines von beidem, das wird erwartet. Aber was ? Ich möchte alle zufriedenstellen. Alle, die da stehen, alle meine alten Bekannten! Selma Lynge, W. Gude, meinen Vater, Cathrine, Rebecca, Anja, Marianne und Sigrun. Sogar mein alter Lehrer Synnestvedt ist dabei. Und dann noch Mutter, sie steht etwas für sich. Ich kannnicht erkennen, ob sie bewaffnet sind. Ich weiß nicht, ob sie Grenzwächter sind oder ob sie wollen, daß ich mit heiler Haut hinüberkomme. Bei diesem schlechten Licht ist es außerdem unmöglich, Blickkontakt aufzunehmen. Ich muß die Entscheidung allein treffen.
Rachmaninow steht immer noch da und wartet.
Rußland, denke ich. Sowjetunion. Vielleicht erwartet mich eine glänzende Karriere auf der anderen Seite? Sie zählen alle zu meinen Helden, Richter, Gilels, Oistrach. Und Gogol, Dostojewski, Puschkin und Tolstoj. Tschaikowsky und Borodin. Rachmaninow ist das Bindeglied. Er ist sowohl die Zukunft als auch die Vergangenheit.
Natürlich muß ich mich für ihn entscheiden!
Ich renne hinaus auf das Eis. Ich merke, daß mich meine Füße tragen. Was für eine Befreiung! Als würde ich fliegen! Niemand hält mich zurück. Rachmaninow steht am andern Flußufer, mit weitausgebreiteten Armen wie in den großen russischen Romanen. Freundschaft zwischen Männern.
Ich bin fast drüben auf der anderen Seite. Noch zwanzig Meter, fünfzehn, zehn …
Da schießt jemand.
Der Schuß kommt von norwegischer Seite, aus dem Wald hinter mir.
Ich drehe mich um, möchte sehen, wer es war. Aber fast alle Schatten sind verschwunden. Nur einer steht noch da.
Es ist
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