Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
Meisterwerk dadurch zerstört wird.« Er nahm ihre Hand und drückte einen Kuss auf ihre Handfläche. »Sozusagen als Appetithäppchen.«
Anouk spürte ein Prickeln im Nacken. Am liebsten hätte sie sich mit Max gleich hier und jetzt in die Büsche geschlagen. Er hatte wohl dieselbe Idee, denn sie sah, wie seine Augen aufleuchteten und er mehrmals schlucken musste.
»Übrigens«, räusperte er sich und sah auf die Uhr, »habe ich mir vergangene Nacht noch Gedanken darüber gemacht, wo Bernhardine begraben sein könnte.«
Anouk riss die Augen auf. »Und?«
»Mir kam da plötzlich eine Idee. Huldrich Erismann lebte ja zur selben Zeit wie unsere Dame auf dem Porträt.« Anouk nickte. »Ist dir noch nicht aufgefallen, dass wir ein Stück aufführen, in dem nahezu die gleichen Charaktere vereint sind, wie sie dazumal auf dem Schloss gelebt haben müssen? Ganz abgesehen von dem eindeutigen Titel, den das Stück trägt.«
Anouk war völlig perplex. Natürlich! Wie hatte sie das nur übersehen können? Das Stück hieß sogar »Das Porträt«. War sie denn blind gewesen?
»Himmel, ja!«, rief sie aufgeregt und stand auf. »Sie sind alle da. Eleanor ist Bernhardine und Josef Johannes von Hallwyl. Eusebius von Hallwyl ist … hm, das wissen wir noch nicht … aber auf alle Fälle der Böse. Man müsste die Ahnengalerie nochmals durchsehen. Und Nick, der den Künstler im Stück spielt, ist Bernhardines Seitensprung. Ich fasse es nicht! Max, du bist ein Genie!« Sie umarmte ihn stürmisch, und er lächelte geschmeichelt. »Aber«, sie setzte sich wieder hin und krauste die Stirn, »im Stück kommt kein Grab vor, oder?«
Max schüttelte den Kopf. »Nein, aber es gibt eine Stelle im dritten Akt, wo Joggeli und Eusebius miteinander streiten.« Max griff in seine Hosentasche und holte das Skript hervor. »Lies selbst.«
Anouk blätterte das Heft durch, schlug besagte Seite auf und las laut vor: »Joggeli und Eusebius stehen am Ufer des Sees bei Schloss Brestenberg. Beide sind wütend. Joggeli schaut zu Eusebius auf. – Joggeli: ›Das kann nicht Gottes Wille sein!‹ – Eusebius: ›Schweig, Knabe, was weißt du schon vom Herrn?‹ – Joggeli: ›Er ist gütig.‹ – Eusebius, laut lachend: ›Gütig bin ich, der ich es beendet habe.‹ – Joggeli, weinend: ›Und ich war Euer Helfer.‹ – Eusebius: ›Es soll dein Schaden nicht sein.‹« Anouk krauste die Nase. »Das sagt mir nichts«, meinte sie gedehnt und gab Max das Drehbuch zurück.
»Aber verstehst du denn nicht? Dort steht: am Ufer des Sees bei Schloss Brestenberg. Es gibt dort aber nur eine einzige Stelle, an der man ans Seeufer gelangen kann: die Badewiese. Dort läuft alles zusammen. Dort fand Herberts und Walters letztes Gespräch in der Herrengarderobe statt. Und das Pentagramm, das Valerie gesehen hat und das sogar den Titel unseres Theaterstücks schmückend umgibt, ist ein zusätzlicher Hinweis.« Er drehte das Skript um und wies auf den fünfeckigen Stern auf der Vorderseite. »Ich bin mir sicher, dass sich Bernhardines Grab auf dieser Badewiese befindet. Vermutlich sogar in dem kleinen Kiosk, der heute an der Stelle der ehemaligen Herrengarderobe steht.«
Anouks Augen wurden kugelrund. »Du hast recht«, flüsterte sie atemlos. »Das muss es sein.«
»Und weißt du, was ich denke?« Anouk schüttelte den Kopf. »Ich glaube, dass wir Joggeli falsch besetzt haben. Joggeli ist kein junger Mann, sondern ein halbwüchsiger Junge. Und meiner Meinung nach ist dieser Junge auch derjenige, der das Stück dann später als Erwachsener geschrieben hat.«
Anouk schlug die Hand vor den Mund. »Du meinst …?«
»Ja, Joggeli ist Huldrich Erismann, geborener Rufli. Er schrieb seine Kindheitserlebnisse als Theaterstück nieder.« »Wenn das stimmt, hat er diesem Eusebius, also dem Bösen, damals geholfen, Bernhardines Leiche zu vergraben.«
Anouk fröstelte plötzlich. War das die Lösung? War Huldrich deshalb später Pfarrer geworden, um dieses Vergehen zu sühnen? Sie schluckte. Am liebsten hätte sie sich umgehend eine Schaufel besorgt, um die Wiese beim Brestenberg umzugraben.
»Kommt ihr?« Auf der Schlossbrücke stand Nick und schwenkte die Arme. »Wäre nett, wenn der Regisseur bei der Hauptprobe auch anwesend wäre!«, rief er.
»Den Spruch kenne ich bereits«, witzelte Max.
Sie standen auf und überquerten den Platz.
»Sag mal«, wandte sich Anouk an ihn, »Brigitte … sie scheint ja immer noch sehr interessiert an dir zu sein.«
Es sollte
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