Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
und rieb sich die Augen. »Seit ich dich kenne, mein Schatz, ist es mit meinen Schlafgewohnheiten nicht zum Besten bestellt.« Er lächelte und warf ihr einen schnellen Blick zu. »Alles in Ordnung?«
Sie nickte stumm. Jetzt, wo es vorbei war, fühlte sie sich leer und ausgelaugt. Hatten sie alles getan, was erforderlich war? Hatten sie alle Fäden miteinander verknüpft? Und würde Bernhardine jetzt endlich Ruhe finden?
»Können wir beim Friedhof kurz anhalten?«, fragte sie.
Max runzelte die Stirn. »Sicher, wenn du möchtest.« Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »In einer Stunde öffnet meine Praxis. Da macht es sowieso keinen Sinn mehr, vorher noch ins Bett zu gehen.«
Die Morgenluft war herrlich kühl, als sie aus dem Wagen stiegen. In den Bäumen zwitscherten Amseln, auf den Sträuchern lag glitzernder Tau. Es roch nach frischer Erde und Rosenblüten. Anouk marschierte schnurstracks in den hinteren Teil des Friedhofs und blieb dort vor den Gedenktafeln derer von Hallwyl stehen. Sie betrachtete die verwitterten Platten mit den Engeln.
»Das sind Bernhardines Kinder«, sagte sie und deutete auf die Namen, die unter dem Namen von Viktoria von Hallwyl in den Stein gemeißelt worden waren. Sie brauchte jetzt menschliche Nähe und Wärme und lehnte sich an Max. Der zog sie an sich, und sie schmiegte sich an seine Schulter. »Unglaublich, dass man ihr die einfach so weggenommen … ich meine, einer anderen Frau zugeschrieben hat. Was war das nur für ein Mensch, der das getan hat? Und warum hat nie jemand etwas bemerkt?«
»Auf alle Fälle kein netter«, versuchte Max zu scherzen, doch Anouk lächelte nicht.
»Nein, ganz bestimmt nicht. Meinst du, dieser Eusebius, von dem Huldrich in seinem Stück spricht, hat Bernhardine getötet?«
Max atmete tief durch. »Ich weiß es nicht. Möglich. Ich habe mir den Stammbaum noch einmal angeschaut. Es gab zu der Zeit nur noch einen von Hallwyl. Johannes’ jüngeren Bruder Gerold, der später auch den Besitz geerbt hat. Wenn unser Eusebius aus dem Stück und dieser Gerold miteinander identisch sind, dann war er Huldrichs leiblicher Vater. Vielleicht war er auch derjenige, der Bernhardine umgebracht hat, aber ich glaube, das werden wir nie erfahren.«
Anouk seufzte. »Nein, vermutlich nicht. Komm lass uns gehen, ich brauche einen Kaffee.«
Sie drehten sich um und gingen den Kiesweg zurück.
»Schau mal!«, sagte Max und zeigte auf das Ganzkörperrelief eines Mannes. »Mein Ur-Ur-Irgendwas.«
Anouk trat näher. Das war also die Gedenktafel für Huldrich Erismann. Die hatte sie bei ihrem letzten Besuch gar nicht bemerkt. Aber da war sie ja auch vor einer tollwütigen Krähe geflohen. Komisch, erst hatten sie sich vor den kreischenden Schwarzröcken kaum retten können. Und jetzt waren sie plötzlich so gut wie verschwunden. Als hätte der Fund von Bernhardines Überresten sie vertrieben. Fast schien es ihr, dass zwischen den Krähen und ihrer Suche nach der wahren Identität der Zinnengängerin ein Zusammenhang bestand und die Vögel es sich zur Aufgabe gemacht hatten, sie von der Lösung des Rätsels abzuhalten. Aber da ging vermutlich die Fantasie mit ihr durch, und sie war auch zu müde, um sich dahin gehend weitere Gedanken zu machen.
Anouk betrachtete das Relief eindringlich. Sie verglich Huldrichs Gesichtszüge mit denen von Max, konnte aber keinerlei Ähnlichkeit feststellen. Der Dichter lächelte traurig. Außerdem schien seine Körperhaltung ein wenig schief zu sein. Sie beugte sich etwas weiter vor.
»Was hat er denn da?«, fragte sie verblüfft. »Besser gesagt, was hat er nicht?« Sie wies auf Huldrichs linke Körperhälfte.
»Ich glaube«, Max trat ebenfalls näher, »der hatte bloß einen Arm.«
Sie sahen sich erstaunt an.
»Na, damit wäre die Sache mit dem Verbuddeln im Brunnen ja eindeutig geklärt«, stellte Anouk fest. »Ein Einarmiger kann nur schwer eine Schaufel halten.«
»Frau Morlot? Herr Doktor? Welche nette Überraschung zu dieser frühen Stunde!«
Anouk und Max wirbelten herum.
»Ach, Herr Pfarrer«, Max atmete tief durch. »Jetzt haben Sie uns aber erschreckt.«
Der Geistliche machte ein betrübtes Gesicht. »Tut mir leid, aber normalerweise ist um diese Tageszeit noch kein Mensch auf dem Friedhof. Was führt Sie denn auf den Gottesacker? Ihre Recherche über eine mögliche Blutsverwandtschaft?«
Der Pfarrer zwinkerte ihnen zu, und Anouk senkte errötend den Blick. Das würde ihr der Priester sicher noch lange unter die
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