Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
der Tür mit einer Pistole in der Hand. Sie saß in der Falle. Ich muss Max helfen! Er atmet noch. Schnell, lass dir etwas einfallen!
Sie bückte sich nach dem Ledereinband und hob ihn auf.
»Sie haben keinerlei Aussicht, wieder heil aus dieser Sache herauszukommen«, sagte sie und versuchte, sich ihre Angst nicht anmerken zu lassen. »Der Pfarrer und ich werden zur Polizei gehen – man wird Sie verhaften.«
Ein schiefes Grinsen verzerrte Ruflis Gesichtszüge.
»Kleine, naive Anouk. Glaubst du wirklich, dass ich euch beide hier so einfach rausspazieren lasse?« Er schüttelte den Kopf. »Ich hätte dir mehr Verstand zugetraut. Die Polizei wird drei Leichen finden. Den armen Pfarrer und den armen Doktor, alle beide erschossen von der verwirrten Anouk, die den Tod ihrer besten Freundin nicht verwinden konnte, für den sie verantwortlich ist. In geistiger Umnachtung tötet sie zwei unschuldige Männer und richtet sich am Ende selbst. Klingt doch gut, nicht?«
Anouk keuchte. War das Szenario, das der Professor soeben entworfen hatte, glaubhaft? Würde ihm die Polizei das alles so ohne weiteres abnehmen? Ja, vermutlich. Rufli streckte die Hand nach dem Folianten aus, den Anouk darauf automatisch enger an ihren Körper presste. Wenn sie ihn aus der Hand gab, war ihr Schicksal besiegelt.
»Wir haben Bernhardine gefunden«, schleuderte sie dem Kurator an den Kopf. »In diesen Minuten werden ihre sterblichen Überreste von der Feuerwehr geborgen. Und dann wird ihr Name rehabilitiert. Es hat also keinen Sinn, uns alle umzubringen. Es ist vorbei.«
Der Professor schien ehrlich überrascht, und für einen Moment war sogar ein Anflug von Zweifel in seinem Gesicht zu sehen. Doch sogleich hatte er sich wieder in der Gewalt.
»Und wenn schon. Das sind nur Knochen. Keiner wird sie mit den Hallwyls in Verbindung bringen. Man wird sie im Krematorium einäschern, und aus die Maus.«
Anouk lächelte, obwohl ihr eher zum Weinen zumute war.
»Das denke ich nun wiederum nicht. Schließlich trägt sie ein Schmuckstück, auf dem ihr Name eingraviert ist, um den Hals.«
Der Schlag kam aus heiterem Himmel. Anouks Kopf flog zur Seite und schlug hart gegen ein Holzregal, das Register entfiel ihren Händen, und sie sank zu Boden. Ein heißer Schmerz schoss durch ihren Körper und ließ sie laut aufstöhnen.
»Verdammte Hexe!«, schrie Rufli und fuchtelte mit der Pistole vor ihrer Nase herum. »Ich werde dich töten. Aber glaub nicht, dass es schnell gehen wird. Zuvor wirst du noch lange leiden. Genauso wie Walter.« Er lachte hysterisch. »Mein armer verblendeter Bruder, der wie Johannes, unseres Meisters dummer Bruder, einer Morlot verfallen ist. Alles schwaches Fleisch, das es auszumerzen gilt.« Rufli breitete die Arme aus. »De profundis ad te clamavi. Sic volo, sic ferro ignique ad honorem diaboli iubeo.«
Seine Augäpfel verdrehten sich, bis nur noch das Weiße darin zu sehen war. Plötzlich war es eiskalt im Raum, und Anouk bemerkte, wie sich ihr Atem in blasse Wölkchen verwandelte. Was um Himmels willen ging hier vor? Sie starrte auf Rufli, der sich wand, als ob er schlimme Schmerzen hätte. Unerwartet riss er die Augen auf, und sein Blick ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Es stank auf einmal nach Moder und Verwesung. Der Professor keuchte. Speichel troff aus seinem Mund. Er fletschte die Zähne wie ein Wolf, der Beute wittert. Dann machte er einen unbeholfenen Schritt auf Anouk zu … und wuchs. Wie war das möglich? Sie schloss ihre Augen und öffnete sie wieder. Aber sie war keiner Sinnestäuschung erlegen. Rufli wurde tatsächlich immer größer. Schon reichte sein Kopf bis an die Decke. Jetzt musste er sogar die Schultern einziehen. Anouk starrte entsetzt auf das Ding, das sich ihr näherte. Dann fing sie lauthals an zu schreien.
Rom, 1749
Marie saß auf der Spanischen Treppe und schälte eine Apfelsine. Sie konnte nicht genug von diesen süßen Früchten bekommen und schloss genüsslich die Augen, als sie sich einen Schnitz in den Mund steckte.
Seit nunmehr drei Jahren lebten sie in Rom. In Mailand hatte sie Cornelis den Vorschlag gemacht, getrennte Wege zu gehen. Doch davon hatte der Maler nichts wissen wollen. Er meinte, dass sie viel zu viel zusammen erlebt hätten, als dass der eine ohne den anderen sein könne. Sie war erleichtert über seine Entscheidung gewesen, kannte sie doch weder das Land noch die Sprache seiner Bewohner.
Cornelis hatte hier in Rom ein Engagement am Teatro Argentina als
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