Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
natürlich nachgehen. Ein Skelett, sagten Sie?« Er schüttelte ungläubig den Kopf. »So etwas hat es hier ja noch nie gegeben.« Er griff nach dem Telefonhörer und schaute zur Uhr, die oberhalb eines Aktenschrankes an der Wand hing. »Ich trommle jetzt erst mal meine Kollegen zusammen und danach die Feuerwehr. So, wie Sie mir das geschildert haben, müssen da Fachleute ran.«
Anouk nickte zufrieden und stand auf. »Und Sie geben uns bitte Bescheid, wenn Sie herausgefunden haben, um wen es sich bei dem Skelett handelt. Nicht wahr?«
»Über laufende Ermittlungen darf ich keine Auskünfte erteilen«, brummte Herr Huggentobler mürrisch. Doch als er Anouks enttäuschtes Gesicht sah, fügte er versöhnlich hinzu: »Aber Sie erfahren es sicher aus der Presse. Ein solcher Fund kann nicht lange geheim gehalten werden.«
»Ja, vermutlich.« Anouk legte theatralisch eine Hand auf ihre Brust. »Ich hoffe nur, dass mich keine Alpträume plagen werden, denn …«
»Auf Wiedersehen, Herr Huggentobler. Und danke für Ihre Hilfe«, unterbrach Max Anouks Vorstellung und zog sie kurzerhand aus dem Büro.
»Unsere Telefonnummern haben Sie ja!«, rief sie noch, bevor die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel.
Vor der Tür sahen sie sich einen Moment lang an und brachen dann in unterdrücktes Gelächter aus. Sie beeilten sich, aus dem Revier zu kommen, und liefen zum Auto.
Anouk lachte sogar noch, als Max auf die Hauptstraße einbog. Sie war völlig überdreht und konnte sich kaum beruhigen.
»Sein Gesicht! Hast du sein Gesicht gesehen?« Sie hielt sich vor lauter Lachen den Bauch. »Das hätte man filmen sollen.«
Max hatte Bernhardine in der letzten Nacht tatsächlich in dem alten Brunnen gefunden. Sie lag auf einer erhöhten Stelle am Grund des Schachts. Vermutlich war ihr Körper während einer Hochwasserperiode auf diesen Sandhügel geschwemmt worden. Viel war nicht mehr von ihr übrig, hatte Max erzählt, aber dass sie einst ein rotes Kleid getragen hatte, war anhand einiger vereinzelter Stofffetzen noch zu erkennen gewesen. Die Krux war nur, wie sollten sie der Öffentlichkeit klarmachen, dass es sich bei der Toten um Bernhardine von Hallwyl handelte? Sie mussten einen untrüglichen Beweis für ihre Identität erbringen, sonst würde man sie in den Akten als Jane Doe, als unbekannte Tote, eintragen.
Sie hatten lange überlegt und immer abstrusere Möglichkeiten in Betracht gezogen und wieder verworfen, bis Anouk eine zündende Idee gehabt hatte.
Als sie sechzehn Jahre alt gewesen war, hatte sie ein Praktikum bei einem Goldschmied absolviert, bevor sie sich fürs Gymnasium entschieden hatte. Dabei hatte sie auch gelernt, Schmuck zu gravieren, und selbst einige Ringe und Medaillons bearbeiten dürfen. Was, wenn das Skelett nun ein solches Schmuckstück trüge? Und zwar eines mit einer Namensgravur? Anouk wusste sogar schon, welche Art von Kleinod sie dem Skelett beilegen wollte. Überhaupt fügte sich alles bestens zusammen. Schließlich trug Bernhardine auf dem Porträt ebenfalls ein Schmuckstück, einen Perlenanhänger, der dem von Anouk zum Verwechseln ähnlich sah. Besser hätte es gar nicht kommen können. Denn wenn sie Bernhardines Namen in ihren eigenen Anhänger eingravieren und diesen danach dem Skelett um den Hals legen würden, hätte dies unweigerlich zur Folge, dass man nach einer Bernhardine von Hallwyl suchen würde. Später könnte Anouk zudem noch Juliens Stammbaum herausrücken. Zu dem Zeitpunkt, an dem man Rufli als Koryphäe zu dem Fall hinzuziehen würde, wären die Details schon aktenkundig und vom Kurator daher nicht mehr zu unterschlagen.
Nachdem sie Anouks Idee mehrmals auf mögliche Schwächen hin untersucht hatten, waren sie aufgebrochen. Hatten Sturmlampe, Spitzhacke und Schaufel gesäubert und wieder in Tatis Schuppen verstaut. Anschließend hatte Anouk ihren Perlenanhänger geholt und in Max’ Praxis mit dessen medizinischen Instrumenten eine Gravur in den Rand des Schmuckstückes eingeritzt. Der Schriftzug mit Bernhardines Namen gelang Anouk geradezu meisterhaft. Niemand würde Verdacht schöpfen.
Aber als sie zurück in der kleinen Halle gewesen waren und vor dem Brunnen standen, hatte Anouk einen kurzen Augenblick gezögert, das wertvolle Familienerbstück aus der Hand zu geben. Doch schließlich hatte sie es Max mit einem Lächeln in die Hand gedrückt, und er war noch einmal in den Schacht hinuntergestiegen, um es Bernhardine um den Hals zu legen.
»Gott, bin ich müde«, sagte er
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