Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
Nase reiben.
»Wir sind auf dem Heim… auf dem Weg in die Praxis«, beantwortete Max die Frage. »Und Sie, weiden Sie schon so früh Ihre Schäfchen?«
Der Pfarrer lachte schallend und klopfte Max heftig auf die Schulter, der darauf sein Gesicht schmerzvoll verzog.
»Ich liebe Leute mit Humor«, meinte der Geistliche und sah zur Kirchturmuhr hinauf. »Aber jetzt muss ich mich leider verabschieden. Herr Rufli kommt gleich, um sich die Kirchenregister anzusehen.«
Anouk stieß einen Schrei aus. »Der Kurator?«
Der Pfarrer nickte eifrig. »Ja, stellen Sie sich vor, ich habe ihn, gleich nachdem Sie gestern gegangen waren, noch getroffen. Er fragte mich nach Ihnen, weil er gesehen hatte, wie Sie aus dem Pfarrhaus kamen. Und da erzählte ich ihm von Ihrer großzügigen Spende für die Restauration der alten Bücher. Und raten Sie mal, er hat mir sogleich angeboten, ebenfalls ein paar Franken dafür lockerzumachen. Aber zuerst möchte er die Register natürlich sehen. Er interessiert sich vor allem für dasjenige der Grafen von Hallwyl.«
Anouk sah Max entsetzt an. Der war bleich geworden und brachte kein Wort heraus. Das durfte doch nicht wahr sein! Rufli kam ihnen also schon wieder in die Quere. Und was war das überhaupt für eine Sache mit dem gräflichen Register?
»Wollen Sie damit sagen«, Anouk konnte kaum sprechen, »dass es ein eigenes Kirchenregister der Herren von Hallwyl gibt?«
Der Pfarrer schaute sie verblüfft an. »Aber ja, natürlich. Die Adligen wurden dazumal alle separat geführt.«
Anouk hatte die größte Lust, dem Geistlichen einen Hieb in die Magengrube zu verpassen. Selbst Max, der sonst immer ruhig und besonnen blieb, keuchte entsetzt auf.
Der Pfarrer runzelte die Stirn. »Haben Sie das denn nicht gewusst?«
»Nein, zum Teufel, haben wir nicht!«, rief Anouk aufgebracht. »Woher denn auch?«
»Ich will ja nicht den Geistlichen herauskehren«, entgegnete der Pfarrer kühl, »aber es macht sich nicht sonderlich gut, wenn man neben der Kirche flucht. Und Sie hatten mich auch nur nach den beiden Namen Morlot und Rufli gefragt und nicht nach dem der Hallwyls.«
Anouk atmete tief durch. »Sie haben recht, entschuldigen Sie bitte.« Sie warf Max einen flehenden Blick zu, der sofort verstand, worauf sie hinauswollte.
»Nun, wenn es Ihnen nichts ausmacht«, sagte er freundlich, »würden wir ebenfalls gerne einen Blick in diese Aufzeichnungen werfen. Wenn Sie daher also gleich mit Herrn Rufli ins Archiv hinabsteigen, spricht doch sicher nichts dagegen, dass wir beide Sie begleiten, nicht wahr?«
Der Pfarrer zögerte einen Augenblick, dann lächelte er.
»Aber sicher, für mich spielt es keine Rolle, ob wir nun zu zweit oder zu viert in die Tiefe steigen. Schließlich muss man sich seine Sponsoren warmhalten.« Er wandte sich um. »Also dann, los geht’s! Der Kurator wartet vermutlich schon auf mich.«
Tatsächlich fielen Rufli fast die Augen aus dem Kopf, als er den Pfarrer mit Anouk und Max im Schlepptau auf sich zukommen sah. Doch er hatte sich sofort wieder unter Kontrolle und setzte ein falsches Lächeln auf.
»Anouk? Seit wann gehörst du denn zu den Frühaufstehern? Und der Herr Doktor, auch schon so früh auf den Beinen. Welch entzückende Überraschung.«
»Ja, ganz entzückend«, entgegnete Anouk reserviert und übersah geflissentlich Ruflis ausgestreckte Hand. Sie wollte diesen Mann unter keinen Umständen noch einmal berühren.
Der Pfarrer warf verstörte Blicke von einem zum anderen, räusperte sich und klatschte dann in die Hände.
»Wollen wir?«, rief er fröhlich. »In einer Stunde beginnt die Morgenandacht. Bis dahin muss ich zurück sein.«
Sie nahmen den gleichen Weg wie beim letzten Mal. Durch den Anbau, die eisenbeschlagene Tür hindurch und die enge Treppe hinunter. Der Pfarrer ging voraus, ihm folgten Rufli, danach Max und zuletzt Anouk. Sie hatte keine Ahnung, was sie dort unten erwartete. Die endgültige Lösung des Rätsels schwarz auf weiß auf dem Papier oder ein neues. Wie auch immer, zumindest hatten sie die Pläne des Kurators durchkreuzt, dem sie sogar zutraute, dass er den Versuch unternehmen würde, die Kirchenregister einfach mitzunehmen.
»So, die Herrschaften. Da wären wir.«
Der Pfarrer schloss die Tür zum Archiv auf, und wieder betraten sie den Raum mit den vielen alten Papieren. Ruflis Augen fingen an zu leuchten, als er die dicken Folianten in der Glasvitrine bemerkte. Er rieb sich nervös die Hände und fuhr sich mit der Zunge über die
Weitere Kostenlose Bücher