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Die Frau in Rot: Roman (German Edition)

Die Frau in Rot: Roman (German Edition)

Titel: Die Frau in Rot: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margot S. Baumann
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erwies sich nach kurzer Prüfung als absolut belanglos. Anouk legte das Exemplar zur Seite und betrachtete den zweiten Band. Sidonia Hedwig Zäunemann. Ihr Gedichtband trug den schwärmerischen Titel: Poetische Rosen in Knospen. Das klang schon besser. Auch das Porträt der Dichterin war Anouk um einiges sympathischer als das der Ziegler. Es zeigte eine junge Frau mit einem Lorbeerkranz im Haar, die keck in die Welt hinausblickte. Anouk schlug das rosa Büchlein auf und blätterte es durch. Es begann mit einer Widmung an die Kaiserin, danach folgte ein ellenlanges Vorwort, das sie gleich übersprang. Für Leichengedichte war es zu heiß, Hochzeitsgedichte interessierten sie nicht, aber bei den vermischten fing sie an zu lesen. Die Sprache war – wie erwartet – altmodisch. Oft musste sie eine Zeile zweimal lesen, um deren Sinn zu erfassen. Nach drei Gedichten gab sie es auf und seufzte. Es war eine Sackgasse. Wie sollte sie aus diesem Wust von Reimen und Versen nur diejenigen herausfinden, die sie gehört hatte? Und selbst wenn sie sie fände, was wäre damit gewonnen?
    Die Schulglocke ertönte, und innerhalb weniger Sekunden füllte sich der Platz mit lärmenden Kindern. Anouk beschloss, zurückzufahren und Tati bei ihren Vorbereitungen für den heutigen Abend zu helfen.

Der Ehstand ist ein schwarzes Meer,
worein viel trübe Wasser fließen;
Er ist ein herb- und bittrer Kohl.
Kann ihn ein beißend Salz versüßen?

    Anouk stockte der Atem. Wer hatte das eben gesagt? Sie schaute sich alarmiert um. Ein paar Mädchen spielten Fangen, drei Jungen dribbelten mit einem Basketball unter einem Korb. Die meisten Schüler standen jedoch nur in der Gegend herum, schwatzten miteinander und aßen ihr Pausenbrot.
    Anouk schlug die Hände vors Gesicht.
    »Ich bin doch nicht verrückt«, murmelte sie, »ich habe die Verse deutlich gehört, und dafür muss es doch eine logische Erklärung geben.«
    »Bitte was?«
    Anouk schrie auf und sprang mit einem Satz auf die Beine. Vor ihr stand Frau Häusermann.
    »O Gott«, sagte die Bibliothekarin mit aufgerissenen Augen, »haben Sie mich jetzt erschreckt!«
    »Das beruht auf Gegenseitigkeit«, japste Anouk und raffte ihre Utensilien zusammen. »Haben Sie gerade eben ein Gedicht aufgesagt?« Sie wagte kaum zu atmen.
    »Ich? Nein, wie käme ich denn dazu? Ich sagte Ihnen doch schon, mit Poesie habe ich nichts am Hut.«
    Frau Häusermann warf ihr einen seltsamen Blick zu.
    Anouk lächelte bemüht. »Ich glaube, die Hitze bekommt mir nicht. Ich werde dann mal gehen.«
    Die Bibliothekarin nickte, setzte sich auf die äußerste Ecke der Bank und holte einen Apfel aus ihrer Handtasche.
    »Ist noch etwas?«, fragte sie zögerlich.
    »Nein, alles in Ordnung.«
    Anouk schulterte ihre Tasche und ging zum Fahrrad. In ihrem Rücken spürte sie Frau Häusermanns Blick.
    »Ich bin nicht verrückt!«, wiederholte sie nochmals. Aber ganz sicher war sie sich nicht.
    Schloss Hallwyl, Oktober 1746
    Der Oktober dieses Jahres war einer der schönsten, den Bernhardine je erlebt hatte. Am Wegrand blühten Taubnessel und Hirtentäschel, die noch etwas Farbe in das braun werdende Gras tupften. Aber wirkliche Pracht entfalteten die Blätter der Eichen im Schlosspark. In einem sattem Gelb, Gold und Rot leuchteten sie mit der Herbstsonne um die Wette. In ihren mächtigen Kronen sammelten sich seit Tagen Stare für ihren Flug über die Alpen. Ein ohrenbetäubendes Gezwitscher verfolgte die Schlossbewohner schon seit den frühen Morgenstunden. Bernhardine beobachtete ein paar Knechte im Park, die mit Steinen nach den schwarz gefiederten Vögeln warfen. Doch die lautstark pfeifenden Tiere flogen nur kurz auf, um sich danach erneut auf den Ästen niederzulassen.
    Bernhardine schloss das Fenster und warf einen Blick auf die Wiege mit den Zwillingen. Die beiden Knaben ließen sich durch das Vogelkonzert nicht stören und schlummerten friedlich Seite an Seite. Gegenüber auf der Chaiselongue saß Désirée, ihre Erstgeborene, herzte ihre Puppe und brabbelte vor sich hin.
    Es war jetzt über drei Jahre her, dass Bernhardine aufs Schloss gekommen war, um Johannes von Hallwyl zu ehelichen. Im März des darauffolgenden Jahres hatte Désirée das Licht der Welt erblickt. In diesem Januar die Zwillinge Burkhardt und Kaspar. Bernhardine hatte also ihre Pflicht, den Hallwyls einen männlichen Erben zu gebären, mehr als erfüllt. Ihr Gatte kümmerte sich seither nur noch wenig um sie und widmete sich lieber seinen Geschäften,

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