Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
gespürt, voller Hass gewesen. Sie strich sanft über ihren kugeligen Bauch und summte dabei ein Lied, um das Kind zu beruhigen. Was hatte sie ihrem Schwager bloß getan? Genauso wenig, wie sie an Maries Gemurmel und Getue glaubte, glaubte sie an Hexen, Dämonen und Zauberei. Das war tiefstes Mittelalter und fußte nur auf dem Aberglauben ungebildeter Menschen. Dennoch würde es sicher nicht schaden, morgen in der Schlosskapelle eine Kerze anzuzünden und ein zusätzliches Vaterunser zu beten. Ob sie Johannes davon erzählen sollte? Besser nicht. Ihr Gatte wurde unleidlich, sobald sie sich über Gerolds Benehmen ihr gegenüber beklagte. Man müsse Verständnis zeigen, knurrte er immer, sein Bruder hätte es in seinem Leben nicht leicht gehabt.
Désirée klatschte in die Hände und riss Bernhardine aus ihren Überlegungen. Sie betrachtete die Kleine, die mit ihrer Puppe in einer Sprache redete, die vermutlich nur andere Kinder oder Engel verstehen konnten.
Das letzte Drittel ihrer ersten Schwangerschaft war schwer gewesen. Bernhardine hatte oft geblutet und daher viel liegen müssen. Manchmal hatte sie sogar befürchtet, das Kind zu verlieren. Nur ein Mädchen! So hatte sie den Ausdruck, der in Johannes’ Augen gestanden hatte, gedeutet, als er den schrumpeligen Wurm nach der Geburt zu Gesicht bekommen hatte.
Bernhardine seufzte und zupfte an ihrer Perücke herum. Ihr Gatte verhielt sich nicht herzlos ihr gegenüber, meist versuchte er sogar, ihre Wünsche zu erfüllen, aber er behandelte sie auch nicht wie eine Gefährtin, sondern eher wie ein französisches Möbelstück: schön anzusehen, aber für den täglichen Gebrauch ungeeignet.
Ihr Gatte war in den vergangenen Jahren enorm in die Breite gegangen; ständig waren die Näherinnen damit beschäftigt, seine Kleider umzuarbeiten. Und der Stallmeister hatte eigens einen kräftigen Warmblüter anschaffen müssen, weil er befürchtete, Johannes würde sonst alle Pferde zuschanden reiten. Der Schlossherr litt tagelang unter dem Zipperlein und war dann unausstehlich. Auch sprach er dem Wein zumeist mehr zu, als ihm guttat.
Bernhardine betrachtete lächelnd ihren Nachwuchs. Nach Désirée waren die Zwillinge gekommen, über die sich Johannes weit mehr gefreut hatte als über seine Tochter. Mit einem dreitägigen Fest hatte er deren Geburt gefeiert. Doch obwohl Bernhardine ihre Kinder über alles liebte, verlangte es sie auch nach gleichaltriger Gesellschaft, nach Abwechslung und höfischem Flair. Ihre Cousine Constanze, die seit einem halben Jahr am österreichischen Hof lebte, hatte ihr kürzlich in einem Brief vorgeschwärmt, wie kultiviert es in Wien unter Kaiserin Maria Theresia zuging. Wie prunkvoll die Bälle waren, wie exzellent die Roben der Damen und wie stattlich die Offiziere in ihren schmucken Uniformen. Bernhardine seufzte und griff nach dem Stickrahmen. Nachdenklich betrachtete sie die Rosenranken auf dem zarten Leinen. Sticken und beten. Das war ihre tägliche Beschäftigung. In einem Anflug von Widerwillen warf sie die Handarbeit gegen die Wand. Désirée schreckte zusammen, und ihre Mundwinkel begannen zu zittern. Bernhardine stand schnell auf und kniete sich vor ihre Tochter hin.
»Sch … sch … Chérie. Mama wollte dich nicht erschrecken«, schmeichelte sie. »Schau nur, wie hübsch deine poupée ist!« Sie griff nach dem Püppchen, das Désirées Händen entglitten war, und schwenkte es vor den Augen ihrer Tochter hin und her. Diese lachte hell auf und griff mit ihren dicken Patschhändchen nach dem Spielzeug. Sie drückte es an sich und schmiegte ihre Wange daran. Bernhardine lächelte. Désirée hatte die roten Locken und die grünen Augen von ihr geerbt, den Körperbau aber von ihrem Vater. Sie würde später vermutlich, genau wie Johannes, zu Übergewicht neigen. Bei den Zwillingen war noch nicht klar, ob sie mehr nach den von Hallwyls oder den von Diesbachs kamen. Aber das spielte auch keine Rolle; sie waren Männer, bei ihnen zählten allein Herkunft und Vermögen.
Bernhardine trat erneut ans Fenster und blickte auf den Park hinaus. Der einarmige Stalljunge sammelte Eicheln. Normalerweise wurden diese an die Schweine verfüttert, doch Marie hatte ihr erzählt, dass die Bauersleute die Früchte auch zur Mehlherstellung verwendeten. Bernhardine schüttelte den Kopf. Auf was für Ideen die Leute hier kamen!
Ein Klopfen unterbrach sie in ihren Betrachtungen. Nach der Aufforderung einzutreten steckte Marie den Kopf durch den Türspalt.
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