Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
übergeben.«
Ihre Großtante hob konsterniert die Augenbrauen, schüttelte dann den Kopf und schritt die Stufen hinab. Das Kleid – auf dem Bügel noch ein gelber Alptraum – stand ihr ausgezeichnet. Sie sah darin wie eine ältere Version der französischen Königin Marie-Antoinette aus. Sogar das Schönheitspflästerchen auf ihrer Wange passte wie die Faust aufs Auge.
»Du siehst ganz entzückend aus, Tati«, sagte Anouk, als sie sich von ihrem Lachanfall erholt hatte. Ihr Bauch schmerzte, und sie hatte Seitenstechen. »Wirklich! Ich wage dich kaum zu duzen.«
Valerie lächelte geschmeichelt, nahm den Fächer, der an ihrem Handgelenk baumelte, und schlug ihn auf.
»Vielen Dank, Liebes«, erwiderte sie und versteckte ihr Gesicht kokett hinter dem Gebilde aus Reispapier und Spitzen. »Und jetzt starten wir die Operation: Reifrock im BMW!«
Nachdem sie versucht hatten, Valerie zunächst auf dem Vorder-, danach auf dem Rücksitz unterzubringen, und beide Male kläglich gescheitert waren, klappte Anouk kurzerhand die Rückbank nach vorne. Sie breitete eine Wolldecke auf der dadurch entstandenen Fläche aus, auf der ihre Großtante nun bequem Platz fand. Während dieser Aktion alberten sie wie Teenager herum und kamen tüchtig ins Schwitzen.
»Lass bitte die Klimaanlage laufen, Liebes! Ich bekomme gleich einen Hitzekollaps in dem Fummel«, stöhnte ihre Großtante und fächelte sich hektisch Luft zu. Anouk setzte sich wieder hinters Steuer. Sie schloss einen Moment die Augen, steckte den Schlüssel ins Zündschloss und startete den Motor.
»Du schaffst das, Anouk«, sprach ihr Valerie Mut zu. »Glaub an dich!«
Anouk versuchte zu lächeln, brachte aber nur eine Grimasse zustande.
»Ja, ich schaff das«, murmelte sie, »es ist ganz leicht. Kupplung, erster Gang, Gas.« Mit einem Satz schoss der Wagen nach vorne. Valerie stieß einen spitzen Schrei aus. »Entschuldige«, sagte Anouk kleinlaut und zog den Kopf zwischen die Schultern. »Ich bin wohl etwas aus der Übung.«
»Kein Problem, Schatz«, tönte es von hinten, und im Rückspiegel sah sie, wie sich ihre Großtante die weiße Lockenperücke wieder zurechtrückte.
Sobald Anouk auf die Hauptstraße eingebogen war, entspannte sie sich ein wenig. Ganz automatisch betätigte sie Blinker, Kupplung und Gangschaltung. Gott sei Dank herrschte nur wenig Verkehr. Nach knapp zehn Minuten erreichten sie den Parkplatz des Schlosses, der nahezu vollständig belegt war. Mit einem hässlichen Geräusch würgte sie den Motor ab, legte die Stirn aufs Lenkrad und versuchte, ihren Herzschlag unter Kontrolle zu bringen.
»Ging doch wunderbar, Liebes«, rief ihre Großtante fröhlich, »und jetzt hilf mir aus dem Vehikel! Ich möchte nicht, dass das Kleid noch mehr zerknittert.«
Das Publikum hatte sich in Schale geworfen, so dass Anouk letztendlich froh um ihr elegantes Cocktailkleid war. Ihre Tante erregte wie erwartet großes Aufsehen. Sie schien es zu genießen, neigte huldvoll den Kopf nach allen Seiten, bot einem Bekannten die behandschuhte Hand zum Kuss und lächelte hinter ihrem Fächer hervor wie eine Geisha beim traditionellen Kirschblütentanz.
Die Dämmerung kroch über den See, und die Menschen vor dem Schlosstor setzten sich in Bewegung. Anouk reichte ihrer Großtante den Arm, und zusammen schritten sie über die Steinbrücke durchs weit geöffnete Eingangstor.
Im Hof des Schlosses hielt Anouk Ausschau nach Max, konnte seinen braunen Haarschopf in der Menge jedoch nirgendwo entdecken. Valerie suchte unterdessen nach den Eintrittskarten in ihrem gelben Tüllbeutel. Der Kontrolleur, ein Mann in klobigen Holzpantinen, weißem Hemd und grauer Kniehose, drückte ihnen je ein Glas Champagner in die Hand, und nachdem sie das prickelnde Getränk getrunken hatten, nahmen sie ihre Plätze in der dritten Reihe ein. Valerie versuchte, sich so hinzusetzen, dass ihr der Reifrock nicht den Blick auf die Bühne versperrte. Doch der klappte bei jedem Kontakt mit der Sitzfläche sofort nach oben und zeigte ein Stück ihrer spitzenbesetzten, knielangen Unterhose. Das Gelächter ringsum war Anouk peinlich. Sie machte sich so klein wie möglich. Valerie fand die Situation dagegen eher erheiternd. Nachdem ein hilfreicher Galan ihr den ganzen Tüll samt Spitze und Damast unter den Stuhl geklemmt hatte, konnte schließlich auch ihre Großtante einen freien Blick auf die Bühne genießen.
Die Sonne ging als glühender Feuerball zwischen den dicken Eichen des Schlossparks unter.
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