Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
Désirées Augen leuchteten auf, als sie die Kinderfrau bemerkte. Sie streckte ihre Ärmchen nach ihr aus, und Bernhardine fühlte einen Stich der Eifersucht, der aber rasch verging, weil ein ankommender Reiter ihr Interesse weckte.
»Nimm die Kleine ruhig mit, Marie«, sagte sie. »Und später hole auch die Knaben und bringe sie zu der jungen Amme! Sie werden hungrig sein.«
Marie nickte und hob Désirée von der Chaiselongue hoch.
»Wollen wir in die Küche, Dédée«, gurrte sie zärtlich, »und dort einmal sehen, ob die Frau einen süßen Brei für das Schätzchen hat?«
Bernhardine blickte erneut aus dem Fenster und auf den Reiter, der auf einem schweißglänzenden Rappen in den Burghof geritten kam. Der Fremde trug einen burgunderfarbenen Reitmantel, eine dunkelbraune Hose und schwarze, bis über die Knie reichende Stiefel. Sein Gesicht konnte sie nicht erkennen, da er einen Dreispitz auf dem Kopf hatte, der mit einer weißen Feder geschmückt war.
Was für eine ungewöhnliche Erscheinung! Die Satteltaschen seines Pferdes waren prall gefüllt; eine hölzerne Konstruktion baumelte auf einer Seite. Bernhardine kniff die Augen zusammen. War das etwa eine Staffelei? Sie schnappte nach Luft. Das würde doch nicht etwa der holländische Maler sein? Sie hatte Johannes schon seit Monaten darum gebeten, von ihnen allen Porträts malen zu lassen. Das Bild seiner ersten Frau Viktoria hing immer noch an prominentester Stelle in der Ahnengalerie und war ihr jedes Mal, wenn sie daran vorbeiging, ein Dorn im Auge. Sie war schließlich diejenige, die Johannes die sehnlich erwarteten Erben geschenkt hatte. Deshalb gebührte ihrem Konterfei auch der beste Platz! Doch ihr Gemahl hatte ihren Wunsch stets damit abgetan, sich keinen Maler leisten zu können. Schon gar keinen holländischen, dem er nebst der Arbeit auch noch Anreise und Unterkunft zahlen musste. Ob es denn nicht auch einer aus der Eidgenossenschaft täte? Aber Bernhardine hatte darauf bestanden, einen Meister aus Antwerpen zu beauftragen. Hatten ihre ständigen Bitten endlich Früchte getragen?
Sie befeuchtete ihre Lippen und strich sich das Tageskleid glatt. Ein Gast, wie aufregend! Vor allem jetzt, da sich das Jahr dem Ende zuneigte und bald der Winter Einzug halten würde. Die Jahreszeit, die sie am meisten verabscheute. Mit ihren grauen Tagen, an denen die Sonne es kaum schaffte, durch die wabernden Nebel zu dringen. Und den endlosen Nächten, in denen sie neben einem Greis wach lag und sich nichts sehnlicher wünschte, als von liebenden Armen umfangen zu werden.
Eine Gänsehaut lief Bernhardine über den Rücken. Sie schüttelte sich, eilte in ihr Ankleidezimmer hinüber und riss die Schranktür auf. Was für eine Toilette sollte sie heute Abend bloß tragen?
6
Seengen, 2010
B eeil dich, Tati. Wir kommen sonst zu spät!«
Anouk stand vor dem BMW ihrer Großtante, kaute auf ihrer Unterlippe herum und beäugte den Wagen argwöhnisch, als würde er sie gleich anspringen und seine Zähne in ihr Fleisch schlagen. Sie trug ein eng anliegendes, schwarzes Cocktailkleid, das sicher zu festlich für den heutigen Anlass war, ihren schlanken Körper jedoch hervorragend zur Geltung brachte. Ihre roten Locken hatte sie lässig hochgesteckt, eine schmale Goldkette mit einem tropfenförmigen Perlenanhänger zierte ihren Hals. Es war ein Familienerbstück, das seit Generationen von den weiblichen Mitgliedern der Familie Morlot getragen und weitergegeben wurde.
Anouk ging um den Wagen herum, strich mit einem Finger über den Lack und schluckte. Sie öffnete die Fahrertür, spähte in den Innenraum wie ein Ritter in eine Drachenhöhle und atmete tief durch. Dann setzte sie sich hinters Lenkrad und schloss vorsichtig die Hände um das glatte Leder. Ein Schweißtropfen rann zwischen ihren Brüsten hinab. Sie schauderte. Ich schaffe das einfach nicht!, dachte sie verzweifelt.
Innerhalb von Sekunden verwandelten sich ihre Finger in Eiszapfen, ihr wurde übel, und sie atmete stoßweise. Anouk stürzte aus dem Wagen. Keuchend, als hätte sie eben einen Hundertmeterlauf absolviert, stand sie neben dem Auto und versuchte, die Panik wegzuatmen.
»Tatatataaa! Wie sehe ich aus?«
Auf den Eingangsstufen stand Valerie Morlot und deutete einen Hofknicks an. Der Anblick war so surreal, dass Anouk hysterisch zu lachen begann.
»Tati, entschuldige bitte!«, japste sie und strich sich die Lachtränen aus den Augen. »Aber … entweder platze ich gleich, oder ich muss mich
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