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Die Frau in Rot: Roman (German Edition)

Die Frau in Rot: Roman (German Edition)

Titel: Die Frau in Rot: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margot S. Baumann
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Fast augenblicklich begannen Hunderte von Zikaden mit ihrem monotonen Gezirpe. Valerie förderte ein Mückenspray zutage, sprühte sich kräftig damit ein und reichte es dann an Anouk weiter. Die musste sich ein Lachen verbeißen. Man konnte ihrer Großtante vieles nachsagen, aber wenn es um praktische Dinge ging, war sie unerreicht. Plötzlich flammte ein Scheinwerfer auf und warf einen hellen Lichtkegel auf die niedrige Holzbühne. Das Gemurmel des Publikums erstarb. Das Orchester, das sich bislang noch in einem Zelt links neben der Bühne befunden hatte, nahm nun seinen Platz ein und stimmte die Instrumente. Anouk schaute auf die Uhr. Der Stuhl neben ihr war immer noch leer. Ärzte und ihre Notfälle!
    In den nächsten Minuten vergaß sie jedoch Max Sandmeier, wie sie auch fast vergaß, wo sie sich befand. Die Musik nahm Anouk auf der Stelle gefangen. Die Melodie und vor allem die Stimme der Sopranistin berührten sie auf eine intime Weise. Es war, als kenne sie diese Musik schon seit langem, als wären diese Töne nur in ihr verschüttet gewesen und als hätte es bloß einiger weniger Akkorde bedurft, um sie wieder ans Tageslicht zu bringen.
    Ein Kribbeln zog sich über Anouks Rückgrat, als ob eine Schar Spinnen daran entlangziehen würde. Sie schüttelte sich, und in diesem Moment sah sie die Gestalt auf der Mauer. Rechts von ihrem Platz befand sich ein Aluminiumgerüst, auf dem zuoberst verschiedene Scheinwerfer angebracht waren. Gleich dahinter erhob sich die Außenmauer des Schlosses mit seinen quaderförmigen Zinnen. Zuerst dachte Anouk, es würde sich um eine Spiegelung der Sopranistin handeln. Doch im Gegensatz zu der in Hellblau gewandeten Sängerin trug die Gestalt auf der Mauer ein tief ausgeschnittenes, feuerrotes Kleid, dessen Schnitt Anouk ein wenig an das Kostüm erinnerte, das ihre Großtante an diesem Abend trug. Ihre langen Locken fielen ihr ungezähmt über den Rücken. Sie war barfuß und winkte Anouk lächelnd zu.
    Die riss die Augen auf und blinzelte. Sie beugte sich etwas weiter nach vorne. Hatte die Frau den Verstand verloren? Was hatte sie dort oben denn überhaupt zu suchen? Gehörte das eventuell mit zur Aufführung? Anouk warf einen Blick ins Publikum. Doch bislang schien keiner der Anwesenden die Frau in Rot auf den Zinnen bemerkt zu haben. Aller Augen waren auf die Bühne gerichtet. Anouk schüttelte den Kopf und blickte erneut zur Außenmauer empor. Die Frau stand noch immer dort oben, hob noch einmal die Hand, presste die andere an ihre Brust und ließ sich dann einfach rücklings ins Nichts fallen.
    »Nein!«
    Anouk sprang auf. Ihre Handtasche flog im hohen Bogen durch die Luft. Valerie schrie erschrocken auf und griff sich ans Herz. Der Gesang der Sopranistin brach mit einem Misston ab. Das Orchester spielte noch ein paar Takte weiter, hörte dann aber ebenfalls abrupt auf. Ein paar Köpfe drehten sich in Anouks Richtung.
    »Himmel, was ist denn?« Tati Valerie blickte mit weit aufgerissenen Augen zu ihr hoch. »Du hast mich zu Tode erschreckt!«
    Anouk deutete mit ausgestrecktem Arm zu den Zinnen hinauf. »Dort … eine Frau«, stammelte sie, »sie ist hinuntergefallen!«
    Ein allgemeines Gemurmel setzte sein. Diejenigen, die nicht verstanden hatten, was sie gesagt hatte, reckten ihre Hälse. Der Mann neben Valerie erhob sich.
    »Eine Frau?«, fragte er ungläubig und spähte zur Mauer hinüber.
    »Ja, in einem roten Kleid. Sie ist von den Zinnen ins Wasser gestürzt!« Anouk war kreidebleich geworden und fühlte auf einmal den Champagner in ihren Eingeweiden rumoren.
    »Sind Sie sicher?« Der Mann schaute sie skeptisch an. »Wie sollte sie dort hinaufgekommen sein? Die Außenmauer besitzt, wie Sie sehen, keinen Wehrgang und ist auch sonst von nirgendwoher zugänglich. Außer von den Zimmern des Schlosses aus kann die Frau nur über das Gerüst mit der Lichtanlage dorthin gelangt sein. Und das hätte gewiss irgendwer im Publikum bemerkt.«
    »Natürlich bin ich mir sicher«, flüsterte Anouk resigniert. Ihre Lippen bebten, und sie zitterte am ganzen Körper.
    »Setz dich, Liebes!«, sagte Valerie und griff sanft nach ihrem Arm. »Jemand wird nachsehen, einverstanden?«
    Anouk ließ sich auf ihren Sitz fallen und nickte. Ein Herr in Krawatte und Anzug gesellte sich zum Sitznachbarn ihrer Großtante, und die zwei flüsterten miteinander. Der Krawattenträger lauschte, warf Anouk und Valerie einen prüfenden Blick zu und schüttelte dann den Kopf. Als der andere weiter auf ihn

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