Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
kann mir nichts anhaben. Marie und Cornelis sind da!, sprach sie sich Mut zu. Es war wie bei Johannes’ Wolfshunden: Man durfte seine Angst nicht zeigen.
Bernhardine setzte sich auf das Kanapee zu Gerolds Linken. Sie drapierte sorgfältig die Falten ihres Morgenmantels über ihrem verschmutzten Kleid, zupfte ein wenig an ihrer Haube herum und suchte nach den richtigen Worten. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, dass ihr Schwager sie beobachtete. Sie räusperte sich und hob den Kopf. Gerolds dunkle Augen glänzten wie flüssiges Pech. Sein Mund war ein schmaler horizontaler Strich, als hätte ihn jemand mit einem Beil in sein Gesicht eingeschlagen.
»Schluss mit den vorgespielten Höflichkeiten!«, eröffnete Bernhardine die Schlacht und warf den Kopf in den Nacken. »Ihr könnt mich nicht leiden, genauso wenig, wie ich Euch leiden kann. Die Gründe sind zweitrangig. Tant pis! Wie dem auch sei, man kann sich seine Verwandtschaft nicht aussuchen. Und solange Ihr auf Eurem Anwesen bleibt, soll es mir egal sein, wie Ihr Euch gebärdet. Doch jetzt seid Ihr hier, auf meinem Schloss, und da habt Ihr Euch gefälligst an die Gepflogenheiten dieses Hauses zu halten. Habe ich mich klar ausgedrückt?«
Gerold verzog spöttisch den Mund. » Euer Schloss, liebe Schwägerin? Ich verstehe.« Seine Augen wurden schmal. Er umfasste den Folianten mit beiden Händen, bis seine Knöchel weiß hervortraten. Auf dem Einband war ein Pentagramm abgebildet, und einen kurzen Moment dachte Bernhardine, er würde ihr das dicke Buch an den Kopf werfen, doch ihr Schwager entspannte sich wieder und verschränkte seine Finger über dem Einband. »Sehr wohl, Madame«, erwiderte er spöttisch und deutete eine Verbeugung an. »Ganz wie es der hochwohlgeborenen Dame beliebt.«
Bernhardine atmete innerlich auf. Sie spürte, wie ein Schweißtropfen zwischen ihren Brüsten hinabrann, ignorierte aber den Drang, ihn schnell wegzuwischen.
»Was habt Ihr mit Désirée gemacht?«
Sollte die Frage ihren Schwager überrascht haben, so zeigte er es nicht. Er griff nach der Schale mit den Apfelringen und starrte in sie hinein, als würden sich in ihr die Geheimnisse der Menschheit offenbaren. Das Feuer knisterte, die Pendule in der Ecke tickte monoton. Gerold blieb stumm. Das Schweigen zerrte an Bernhardines Nerven. Sie wagte kaum zu atmen, geschweige denn, sich zu bewegen, als würde ein Verändern ihrer Körperhaltung die versteckte Anschuldigung nichtig machen und ihrem Schwager die Möglichkeit geben, sich um eine klare Stellungnahme zu drücken.
Gerold stellte die Süßigkeiten langsam auf das Tischchen zurück. Er nahm einen Schluck Wasser und schloss genüsslich die Augen. Nur das Knacken der Tannenscheite im Kamin übertönte sein Schlürfen. Unvermittelt warf er den Kelch in den Kamin. Mit einem Knall zersplitterte das Glas in tausend Stücke, und als sich sein Inhalt in die Flammen ergoss, folgte ein lautes Zischen.
Gerold hatte sich mit einem Satz aus dem Sessel erhoben. Das dicke Buch fiel zu Boden, wo es aufgeschlagen liegen blieb. Ihr Schwager war mit zwei Schritten beim Kanapee und pflanzte sich vor ihr auf, so dass Bernhardine zu ihm aufblicken musste.
Obwohl Gerold kaum größer war als sie selbst, schien er auf einmal zu wachsen, bis seine Schultern an die Decke stießen und er plötzlich den ganzen Raum beherrschte. Ein unheimliches Brausen erfüllte die Luft, ließ die Flammen im Kamin flackern und dröhnte in Bernhardines Ohren. Eine beißende Kälte drang durch die Wände. Ihr Atem gefror zu weißen Wölkchen. Es roch unvermittelt penetrant nach Schwefel und Moder.
Bernhardine saß zu keiner Bewegung fähig auf dem Kanapee. Es war genau wie damals in Bern, als sie, kurz bevor sie nach Seengen aufgebrochen war, von einem bösen Traum heimgesucht worden war. Eine tote Krähe war darin vorgekommen, Pferdegetrampel und eine Teufelsgestalt. Oder hatte sie diese Szene tatsächlich erlebt? Aber wie war das möglich? Bernhardine blinzelte mehrmals. Der Spuk verflog, und sie atmete erleichtert auf. Vom Eingang her hörte sie einen spitzen Schrei. Ihr Herzschlag verdoppelte sich. Sie begann, geistesgegenwärtig zu husten. Marie, Marie, sei bitte still!, flehte sie stumm und suchte in Gerolds Gesicht nach einem Hinweis, dass er die heimlichen Zuhörer bemerkt hatte. Ihr Schwager schien jedoch vollkommen geistesabwesend zu sein. Seine Augen huschten von einer Seite zur anderen, die Lider flatterten wie Libellenflügel. Er knirschte mit den
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