Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
eine Gedenktafel für diese Kinder.« Ihre Stimme zitterte vor Erregung. »Ich habe die Inschriften gesehen. Aber auch dort kann man nur das Todesdatum dieses Georg Dietrich entziffern. Bei den anderen steht nichts. Da ist doch etwas faul!« Sie knallte Ruflis Chronik so heftig auf den Tisch, dass eine Staubwolke in die Luft stieg.
Max schaute sich verstohlen um. »Nicht so laut!«, zischte er. »Wenn wir uns nicht benehmen, muss ich den Schlüssel fürs Schloss wieder abgeben. Ich darf mich nämlich nur im vorderen Teil aufhalten.«
»Ist ja gut. Ich bin nur so aufgeregt. Endlich ein konkreter Hinweis.« Sie setzte sich auf einen Schemel neben dem Sekretär, schlug die Beine übereinander und wippte rhythmisch mit dem Fuß. »Ist doch ungewöhnlich, dass der Rufli alles akribisch dokumentiert und nur bei den Kindern geschludert hat. Findest du nicht?« Max griff nach der Chronik und kontrollierte den Einband. Anouk verdrehte entnervt die Augen. »Ich habe das teure Werk schon nicht beschädigt, keine Angst«, meinte sie spöttisch.
Max legte das Buch wieder hin. »Soweit ich weiß, ist das Schloss irgendwann einmal abgebrannt. Vielleicht sind damals ja einige wichtige Dokumente verlorengegangen.«
Anouk pustete sich die Fransen aus der Stirn.
»Nein, ich denke eher, dass der werte Herr Kurator da entweder einen Fehler begangen oder aber wissentlich Informationen unterschlagen hat.«
Max lachte. »Warum sollte er denn so etwas tun?« Er stellte das Buch sorgfältig an seinen Platz im Regal zurück. »Ihm kann doch egal sein, wie und wann die Kinder des damaligen Grafen gelebt haben oder wann sie gestorben sind.«
Anouk stützte den Kopf in die Hand. Max’ Einwand war nicht von der Hand zu weisen. Wenn sie mit ihrer Vermutung dennoch recht hatte, musste Rufli einen triftigen Grund gehabt haben, diese Daten zu verheimlichen. Aber welchen?
»Was tun Sie denn hier?«
Eine ältere Frau mit einem Staubwedel in der Hand stand im Türrahmen und blickte sie mit großen Augen an. Anouk schnellte herum.
Max räusperte sich. »Guten Tag, Frau Döbeli!«, rief er und setzte dabei sein charmantestes Lächeln auf. »Wie geht es denn Ihrer Mutter? Alles so weit in Ordnung?«
Die gefurchte Stirn der Angesprochenen entspannte sich augenblicklich. »Ach, Sie sind das, Herr Doktor! Ja, der Oma geht’s wieder gut.« Sie beäugte Anouk misstrauisch. »Sie wissen aber schon, dass man hier nicht so einfach alles anfassen darf, ne? Dafür sind ja diese Absperrungen da.«
»Tut mir leid, Frau Döbeli. Da haben Sie natürlich recht. Ich wollte meiner Freundin nur schnell die wunderschöne Bibliothek zeigen. Wir sind auch schon wieder weg.«
Max schob die grinsende Anouk aus dem Raum. Vor der Tür sahen sie sich in die Augen und brachen in schallendes Gelächter aus. Sie stolperten die Treppe hinunter ins Freie und setzten sich auf eine Holzbank im Vorhof.
»Meiner Freundin?«, feixte Anouk lächelnd.
Max’ Gesicht färbte sich eine Nuance dunkler. Er hüstelte. »Nun ja, ich dachte …«, er brach ab und beobachtete zwei Krähen, die sich um ein weggeworfenes Stück Brot stritten.
Anouk fand es ausgesprochen amüsant, wie er sich vor Verlegenheit wand. Sie beugte sich zu ihm hinüber und hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen.
»Klingt doch gut!«, rief sie und stand auf.
Da schlang er die Arme um ihre Hüften und zog sie an sich.
»Finde ich auch«, pflichtete er ihr bei.
Anouk lachte übermütig. Wie dumm sie doch gewesen war, sich die Gefühle, die sie für Max hegte, nicht eingestehen zu wollen. Was spielte es für eine Rolle, was morgen oder übermorgen sein würde und wie lange dieses Gefühl anhielt? Sie lebte hier und jetzt. Nichts war mit diesem Flattern im Magen zu vergleichen, das sich ihrer bemächtigte, wenn Max bei ihr war. Sie wollte jede Minute, jede Sekunde davon ausschöpfen, auskosten und mit allen Sinnen genießen.
Anouk strich ihm durchs Haar. Er drehte den Kopf und küsste ihre Handfläche. Dann schob er seine Hand unter ihr T-Shirt und streichelte ihren Bauch. Anouk zog scharf die Luft ein. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, und spontan kam sie ihm mit ihrem Körper entgegen.
Ein Räuspern ließ sie zusammenzucken. Frau Döbeli stand im Türrahmen, schüttelte missbilligend den Kopf und klopfte ihren Staubwedel aus.
»Ich glaube, wir sollten uns ein ruhigeres Plätzchen suchen«, flüsterte Max und grinste. »Komm, ich zeige dir Bertas Kostüm!«
Anouk nickte stumm. Sie war noch immer
Weitere Kostenlose Bücher