Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
aufgewühlt. Dieser Mann brachte sie vollkommen aus dem Konzept. Schweigend folgte sie ihm an der Scheune, die zu einem Café umgebaut worden war, und am Kornhaus vorbei, bis sie schließlich an eine kleine Pforte kamen.
»Das alles hier«, Max machte eine ausholende Geste, »nannte man früher den Westbau. Hier wohnten die Bediensteten und alle anderen Leute, die fürs Schloss arbeiteten. Auch Gäste von niederem Stand wurden in diesem Teil untergebracht. Für die adligen Besucher standen natürlich komfortablere Zimmer im Palas oder im Wohnturm zur Verfügung.«
Anouk hörte ihm nur mit halbem Ohr zu, aber Max schien von ihrer Verwirrung nichts zu bemerken. Er zog seinen Schlüsselbund hervor und öffnete die Holztür.
»Im Moment dient uns diese Kammer als Umkleide.« Er trat beiseite, und Anouk schlüpfte ins Zimmer. Die letzten Sonnenstrahlen brachen sich in den gelben Butzenscheiben der Fenster und tauchten den Raum in ein goldenes Licht. Auf einem Metallständer hingen die Kostüme, die für das Theaterstück verwendet wurden. Samt, Brokat und weiße Spitzen, dazwischen braunes und helles Leinen. Eine Reihe Hüte lag auf einem roh gezimmerten Holztisch; an der gegenüberliegenden Wand standen verschiedenfarbige Schuhe, Pantoffeln und Stiefel in Reih und Glied.
Es riecht wie in Tatis Kleiderschrank, ging es Anouk durch den Kopf.
»Schau, das ist Bertas Kostüm!«
Max hielt einen Kleiderbügel hoch, an dem ein bräunliches, unförmiges Gewand baumelte.
»Das muss ich tragen?«, fragte Anouk bestürzt und linste begehrlich nach einem silberdurchwirkten, tief ausgeschnittenen Kleid aus Taft und Brokat. Dann wandte sie sich wieder dem unscheinbaren Kleid zu und strich über das Gewebe. Es sah nicht nur kratzig aus, es fühlte sich auch so an. Sie verzog den Mund.
»Tja, Berta war eben eine Magd. Die hatte kein so tolles Outfit wie die Gräfin. Aber probier das gute Stück doch einfach mal an«, schlug Max vor. »Wenn es nicht passt, bleibt noch genügend Zeit, es ändern zu lassen. Ich befürchte nämlich, das Teil wird dir etwas zu weit sein. Susanne ist … nun ja, etwas fülliger als du.«
Er grinste.
Anouk griff nach dem Bügel und schaute sich suchend um.
»Hier?«
Obwohl sie sonst nicht prüde war, hatte sie plötzlich Scheu davor, sich vor Max auszuziehen.
»Warum nicht, du bist doch ein Model?«, sagte er unschuldig, aber als er Anouks ärgerlichen Blick bemerkte, nickte er kurz und wies auf eine verborgene Tür neben dem Kamin.
Der kleine Raum dahinter war eher ein Kabuff als ein richtiges Zimmer. Vermutlich hatte er früher als Plumpsklo gedient, denn im Boden war noch ein rundes Loch zu sehen, das ganz offensichtlich in späteren Jahren zugemauert worden war. In einer Ecke standen ein paar Rechen, eine Mistgabel und ein hölzernes längliches Fass, das zum Butterstampfen verwendet wurde. Die Requisiten der Knechte und Mägde im Theaterstück.
Ehemaliges Topmodel erzeugt Markenbutter! Wäre doch eine tolle Schlagzeile für die Vogue. Anouk schmunzelte. Ihr früheres Leben schien so weit weg zu sein. Als sei es lediglich eine Geschichte aus einem Buch, an dessen Protagonisten man sich nur noch vage erinnerte. War das hier dieselbe Anouk, die noch vor einem halben Jahr von Party zu Party gehetzt war, mit Gefühlen und Alkohol gespielt und ihr Geld mit vollen Händen ausgegeben hatte?
Sie setzte sich auf eine umgestülpte Apfelkiste und legte das Magd-Kostüm über ihre Knie. Was Zeit doch für ein unwirklicher Begriff war! Es war noch keine Woche her, seit sie aus dem Postbus ausgestiegen war. Mit nichts als einer Schuld auf der Seele, die sie zu ersticken drohte. Und jetzt, nur ein paar Tage später, konnte sie schon wieder viel freier atmen. Zwar tauchte Julias Gesicht immer noch ab und an vor ihr auf, aber der Schmerz ihres Verlustes erdrückte sie nicht mehr. Und sie fühlte sich weniger schuldig. Ja, sie fühlte sogar so etwas wie Glück. Max mit seinen unvergleichlichen Augen, dem schlechten Haarschnitt und seinem unwiderstehlichen Lächeln hatte ihr mit seiner unaufdringlichen, aber beharrlichen Art gezeigt, dass sie nicht bloß eine schöne Fassade war, sondern ein Mensch, den man mit all seinen Vorzügen und Fehlern lieben konnte. Lieben? Anouk lächelte. Ja, vielleicht sogar das.
»Alles in Ordnung?«, hörte sie ihn durch die Tür fragen.
Anouk atmete tief durch und stand auf.
»Sofort!«, rief sie, streifte sich die Schuhe von den Füßen und begann, ihre Bluse
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