Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
brüchiger Stimme.
Bernhardine schüttelte stumm den Kopf. Sie war sich sicher, dass Gott sie für ihren Fehltritt strafte. Und gegen Gottes strafende Hand konnte niemand etwas ausrichten. Nun zog ein höherer Richter die Fäden. Sie waren lediglich Marionetten, die einmal hierhin, einmal dorthin gelenkt wurden.
»Geh, lass mich allein!«, sagte sie zu ihm. »Ich muss mich jetzt um meine Familie kümmern.«
Cornelis schluckte. »Und wir?«, fragte er leise.
»Wir?« Bernhardine lächelte bitter. »Wir hatten die letzte Nacht.«
13
Seengen, 2010
D as glaub ich nicht!«
Anouk hielt sich noch immer fassungslos die Hand vor den Mund und schüttelte ungläubig den Kopf. Sie setzte sich auf den Boden, ungeachtet dessen, dass ihre Kleider dadurch noch schmutziger wurden, stützte ihre Ellbogen auf die Knie und starrte auf das Bild.
»Du meinst …« Max ging in die Hocke und wischte sorgfältig den Staub von der Leinwand. Dann pustete er die letzten Schmutzpartikel fort. Das Bild war trotz seines ungewöhnlichen Aufbewahrungsortes in erstaunlich gutem Zustand. Das Kleid der darauf porträtierten Frau leuchtete in einem satten Rot, als wäre das Gemälde erst kürzlich hinter der Bretterwand versteckt worden.
»Sie ist es«, flüsterte Anouk bewegt. »Ich wusste, dass ich sie mir nicht eingebildet habe.«
Die Porträtierte trug ihre langen Haare offen, die ihr wildgelockt in einer kupferfarbenen Kaskade über den Rücken bis zur Taille hinabfielen. Sie hatte den Kopf leicht geneigt und blickte den Betrachter herausfordernd an. Der Stoff ihres üppigen Kleides schien aus schimmernder Seide zu bestehen. Als einzigen Schmuck trug sie eine Kette mit einem Perlenanhänger um den Hals, der Anouk seltsam vertraut vorkam. Im Hintergrund waren ein lichter Laubwald und ein Wasserfall zu sehen.
»Sie ist wunderschön, nicht wahr?« Anouk suchte Max’ Blick. Dieser hatte sich ebenfalls auf den Boden gesetzt und betrachtete das Gemälde mit gerunzelter Stirn. »Max!« Sie schubste ihn an.
»Wie?«
Anouk verdrehte die Augen. »Ich sagte, dass sie wunderschön ist. Findest du nicht?«
»Ja, das ist sie«, antwortete er schließlich und warf ihr dabei einen eigentümlichen Blick zu.
Was war denn nun wieder los? Da hatten sie endlich einen Beweis dafür gefunden, dass ihre Beobachtungen nicht aus der Luft gegriffen waren, und jetzt kam es ihr fast so vor, als würde Max dies weder freuen noch beruhigen.
»Ist etwas?«, fragte sie und verlor sich erneut in dem herausfordernden Blick der Abgebildeten, der sie ein wenig an den ihrer Schwester Aimée erinnerte. Anouk neigte den Kopf.
»Tja, also …«, stotterte Max und biss sich auf die Lippen. »Ich bin etwas, na ja, sagen wir mal … erstaunt.«
Anouk lachte. »Kein Wunder, schließlich findet man nicht jeden Tag ein antikes Bild in einer Toilette versteckt.«
»Das ist es nicht«, erwiderte er gedehnt und musterte Anouk erneut prüfend.
»Ich verstehe nicht«, sagte sie und strich dabei mit ihrem Finger behutsam über die Oberfläche des Ölgemäldes. Es war uneben. Für das Kleid hatte der Künstler mehrfach kräftig Farbe aufgetragen. Kleine Erhebungen und einzelne Pinselstriche waren deutlich auszumachen. Das Gesicht der Frau war jedoch vollkommen eben und in einem zarten Pastell gehalten, das dem Teint der Dame genau die vornehme Blässe verlieh, die dazumal in Mode gewesen war. Der Maler war auf alle Fälle kein Dilettant gewesen. Anouk suchte die Ecken des Gemäldes nach einer Signatur ab. Doch bei dem Dämmerlicht, das mittlerweile in der Kammer herrschte, konnte sie keine erkennen. Bei Tageslicht würden sie hoffentlich eine entdecken können.
»Du hast wirklich keine Ahnung, oder?« Max schüttelte ungläubig den Kopf. »Siehst du denn nicht, wie sehr ihr euch ähnelt?«
Anouk verzog den Mund zu einem spöttischen Grinsen. »Aber ja, alle Rothaarige gleichen sich. Wir sind wie siamesische Zwillinge – nahezu identisch.«
Max stand auf und klopfte sich den Staub von der Jeans.
»Du musst mir ja nicht glauben«, sagte er, »aber schau doch mal! Die gleiche ungebändigte Lockenmähne, die gleichen grünen Augen und dieser … tja, vorwitzige Schalk im Blick. Des Weiteren habt ihr ein kongruentes Os zygomaticum. « Anouk runzelte die Stirn. »Das heißt Jochbein«, erklärte er.
Anouk rollte mit den Augen. »Du siehst ja Gespenster«, meinte sie lachend und stand ebenfalls auf. »Meinst du, wir können das Bild mitnehmen?«
Max seufzte. »Im Grunde
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