Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
nicht. Es gehört dem Schloss; besser gesagt der Erbengemeinschaft. Ich müsste folglich dem Verwalter Bescheid geben.«
»Aber?«
Er schnalzte mit der Zunge und zwinkerte ihr zu. »Wir könnten uns das Porträt der unbekannten Dame auch einfach für eine Weile ausleihen.«
Sie brachten die Kammer wieder in einen geordneten Zustand. Vor die zersplitterte Bretterwand schoben sie eine wurmstichige Truhe. Bertas Kostüm landete, unprobiert, auf dem Ständer. Anschließend wickelte Max das Gemälde kurzerhand in eine Wolldecke, die mit zum Requisitenfundus der Theatergruppe gehörte. Bevor sie die Umkleide verließen, äugte Anouk vorsichtig durch den Türspalt. Auf der anderen Seite des Innenhofes erblickte sie Frau Döbeli, die soeben mit einem Eimer und einem Besen in der Hand im Kornhaus verschwand. Ansonsten war weit und breit niemand zu sehen.
Anouk gab Max ein Zeichen. Unauffällig schlichen sie an der Mauer entlang Richtung Ausgang. Sie hatten den Torbogen schon durchschritten, als plötzlich ein lauter Pfiff ertönte. Sie erstarrten.
»Herr Doktor, so geht das aber nicht!«, wetterte eine Stimme hinter ihnen.
Anouk wurde leichenblass, Max hingegen puterrot. Beide drehten sich wie ertappte Schulkinder um.
Ein untersetzter Mann mit einer Halbglatze stiefelte auf sie zu und wackelte dabei mit dem Kopf.
»Nein, nein!«, fuhr er in tadelndem Ton fort. »Wenn Sie die Ankleide nicht zuschließen, geht da jeder rein. Und dann habe ich den Salat. Und Sie schlussendlich auch. Und am Ende werden noch die Requisiten gestohlen. Alles schon mal da gewesen, glauben Sie mir!«
Anouk fiel ein Stein vom Herzen, und Max stieß hörbar die Luft aus.
»Ach, wie dumm von mir, Herr Ramseier«, sagte er. »Ich war in Gedanken. Zum Glück passen Sie so gut auf! Natürlich, immer sorgfältig abschließen.«
Der Aufseher nickte mit Nachdruck, trat näher und beugte sich mit zusammengekniffenen Augen vor.
»Was haben Sie denn …«
»Wir müssen jetzt … leider. Bis bald. Und danke nochmals.«
Max wandte sich um und marschierte eilig über die Brücke. Anouk schenkte dem kleinen Mann ein strahlendes Lächeln und stolperte dann hinter Max drein. Ihre Fingerspitzen kribbelten. So musste sich ein Dieb fühlen, der seinen Häschern knapp entronnen war.
Ein Krächzen in der Nähe fesselte Anouks Aufmerksamkeit. Als sie den Kopf wandte, sah sie eine Schar Krähen, die auf einer Eiche hockten. Die Vögel flatterten hektisch mit den Flügeln und beäugten den davoneilenden Max. Anouk stockte der Atem. Sie öffnete den Mund, doch es war schon zu spät. Der Schwarm hatte sich bereits in die Luft erhoben. Max hatte gut dreißig Meter Vorsprung. Er wartete an der Hauptstraße auf eine Lücke im vorbeibrausenden Verkehr. Sein Wagen stand auf dem Parkplatz gegenüber.
»Max!«, rief sie aus Leibeskräften. Ihre Stimme überschlug sich. »Pass auf … die Krähen!«
Er drehte sich um, konnte sie aber nicht verstehen, denn in diesem Augenblick näherte sich ihm ein Sattelschlepper, ein riesiger, gelber Laster, beladen mit Baumstämmen. Anouk fuchtelte wild mit den Armen. Max hob seine Hand, um zurückzuwinken, und genau in diesem Moment attackierten ihn die Krähen von hinten. Er versuchte sein Gesicht mit einem Arm zu schützen, mit dem anderen hielt er das Bild noch immer fest an sich gepresst. Anouk fing an zu rennen, während Max, der noch immer vor den Vögeln auf der Flucht war, rückwärts auf die Straße stolperte. Ohrenbetäubendes Hupen erfüllte die Luft, darauf das Quietschen bremsender Reifen. Anouk schrie entsetzt auf. Max stand wie erstarrt auf der Fahrbahn und blickte verblüfft auf den heranrollenden Laster, dessen Räder nun offensichtlich blockierten.
Anouk preschte vorwärts. In vollem Lauf prallte sie gegen Max’ Brust und riss ihn mit sich über den Mittelstreifen auf die andere Fahrbahnseite, wo sie hart auf dem heißen Asphalt aufschlugen. Das Bild flog in hohem Bogen ins Gebüsch. Weitere Wagen mussten abrupt abbremsen und fingen an zu hupen. Es roch nach verbranntem Gummi und Diesel. Anouk spürte ein Brennen an Armen und Beinen.
»Verdammt, mein Agent bringt mich um!«, stöhnte sie, als sie ihre aufgeschürfte Haut betrachtete.
»Aua, das brennt!«
Max saß in seiner Praxis auf einer Metallliege, die mit einem breiten Papierstreifen abgedeckt war, und verzog das Gesicht, als Anouk ihm den jodgetränkten Tupfer auf die Wunde presste.
»Männer!« Sie verdrehte die Augen. »Du kannst dich gleich selbst
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