Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
aufzuknöpfen.
Da krachte hinter ihr etwas an die Fensterscheibe. Anouk wirbelte herum. Blut und grauer Flaum klebten am Glas. O nein, der arme Vogel! Anouk stellte die Apfelkiste vor das winzige Fenster und kletterte hinauf. Der Fensterriegel war verrostet und ließ sich nicht bewegen. Sie packte ihn mit beiden Händen und zog mit aller Kraft daran. Mit einem Knirschen gab der Verschluss plötzlich nach. Anouk verlor das Gleichgewicht und ruderte wild mit den Armen. Die Holzkiste unter ihr wackelte wie ein Seemann beim Landgang. Dann kippte sie schließlich um, und Anouk mit ihr. Sie prallte rücklings gegen eine Bretterwand, die unter ihrem Gewicht krachend in sich zusammenstürzte. Staub wirbelte auf. Anouk fiel auf den harten Steinboden und schlug sich den Kopf an.
»Anouk?« Max stürmte in das Kabuff. Er wedelte die Staubwolken zur Seite. »Verdammt, was ist passiert?«
»Hier!«, krächzte sie, fasste sich an den Kopf und stöhnte. Das würde eine schöne Beule geben. Zum Glück gehörte zu ihrem Kostüm eine Haube. Sie lachte, schluckte dabei eine Portion Dreck und fing an zu husten. Max’ Hand tauchte durch die Staubwolke hindurch vor ihr auf. Sie griff danach, rappelte sich hoch und klopfte sich den Schmutz von den Kleidern. Ihre Bluse war zerrissen, eine blutende Schramme zog sich über ihre Wade, und ihre roten Locken waren von einer puderigen Schicht aus Staub und Spinnweben bedeckt.
»Du siehst wie Frankensteins Braut aus«, sagte Max trocken und zog ihr ein totes Insekt aus den Haaren. »Kannst du mir erklären, was zum Teufel du schon wieder angestellt hast?«
Anouk nieste. »Ich habe gar nichts gemacht. Etwas flog …«, sie brach ab und starrte überrascht auf einen Gegenstand, der hinter der zerborstenen Bretterwand an der Wand lehnte. Der Zwischenraum war nur eine Handspanne tief und voller Mäusekot.
»Flog …?« Max riss das Fenster auf und schaute sie fragend an.
»Ein Vogel …«, fing sie an und brach dann ab. Sie griff nach dem rechteckigen Gebilde hinter der Bretterwand, das in ein gegerbtes Ledertuch eingeschlagen war. Als sie es berührte, begann die Tierhaut zu zerbröckeln. Sie zog den Gegenstand vorsichtig aus dem Versteck und schlug sich dann entsetzt die Hand vor den Mund. Vor ihr stand die Frau im roten Kleid!
Schloss Hallwyl, 1746
Sie fanden Gerold im Palas, wo er vor dem großen Kamin saß und in einem dicken Folianten blätterte. Dazu murmelte er leise in einer Art Singsang unbekannte Worte vor sich hin, die immer wieder von Zisch- und Schnalzlauten unterbrochen wurden. Auf einem Beistelltisch standen eine Schale mit gedörrten Apfelringen und eine Karaffe Wasser.
Bernhardine gab Marie und Cornelis ein Zeichen, die sich daraufhin hinter den Säulen am Eingang versteckten. Dann straffte Bernhardine die Schultern, zog den Gürtel ihres Morgenmantels enger und marschierte erhobenen Hauptes auf ihren Schwager zu.
Das flackernde Kaminfeuer verlieh Gerolds Gesichtszügen ein dämonisches Aussehen. Genau so stellte sie sich einen Boten der Hölle vor. Sie schauderte und blieb unwillkürlich stehen. Doch der Gedanke an Désirée trieb sie weiter. Sie würde ihren Schwager jetzt zur Rede stellen. Noch einmal blickte sie zurück zum Eingang. Obwohl sie niemanden sehen konnte, gab ihr die Gewissheit, dass Marie und Cornelis hinter den Säulen warteten, Zuversicht. Was konnte ihr schon passieren?
»Wie geht es meinem geliebten Bruder, verehrte Belle-Sœur? «, wandte sich Gerold an sie. Bernhardine stolperte. Er musste ihre Schritte gehört haben, hoffentlich nicht auch die ihrer Zeugen.
»Sagt Ihr es mir, werter Schwager!«, erwiderte sie und trat in den Lichtschein des Feuers. Sie streckte ihre eiskalten Hände nach den wärmenden Flammen aus.
Gerold lachte leise, klappte das Buch zu und hob den Kopf. Sein Blick war pure Herausforderung. Plötzliche Angst schnürte Bernhardine die Kehle zu. Sie schluckte.
»Nun, Weib, das würde ich ja gerne tun, nur hat mich mein Bruder des Zimmers verwiesen, als …« Er brach ab und griff nach einem gedörrten Apfelring.
Bernhardine registrierte mit Abscheu, wie er sich die Süßigkeit zwischen seine verfaulten Zähne schob, mit offenem Mund kaute und sie dabei grinsend musterte. Sie wandte sich angeekelt ab. Es war an sich schon ein unglaublicher Affront, dass er sich nicht erhob, um ihr seine Ehrerbietung zu bezeugen, aber dass er sie derart abfällig mit »Weib« ansprach, verschlug ihr die Sprache.
Ich werde stark sein. Er
Weitere Kostenlose Bücher