Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
verarzten«, meinte sie schnippisch, als sie seine leidende Miene bemerkte. »Krankenpflege gehört nicht unbedingt zum Repertoire eines Models.«
Er hielt ihr Handgelenk fest. »Du hast mir das Leben gerettet«, sagte er leise.
Anouk stellte die braune Glasflasche auf den Beistelltisch und warf den Tupfer in eine Keramikschale.
»Du wärst nie in diese Situation gekommen, wenn du mir nicht geholfen hättest. Es ist also nur recht und billig, wenn ich … Und überhaupt war das reiner Instinkt.«
Max zog ihre Hand an seine Lippen und küsste ihre Finger. »Ich stehe für immer in deiner Schuld.«
Sie lachte, doch es klang gepresst. »Wie Winnetou und Old Shatterhand?«, scherzte sie, doch Max verzog keine Miene.
»Ich meine es ernst, Anouk. Ohne dich wäre ich jetzt tot.«
Anouk senkte den Blick. Es machte sie verlegen, dass Max sie ansah, als hätte sie gerade das Penicillin erfunden.
In der Ecke stand das Ölgemälde. Sie hatten es sofort nach dem Zwischenfall unbeschadet aus der bepflanzten Straßenböschung gezogen. Erstaunlich, wenn man bedachte, dass sie beide Schrammen davongetragen hatten und Max darüber hinaus vermutlich sogar noch eine leichte Gehirnerschütterung, das Porträt aber nicht den geringsten Schaden genommen hatte.
Anouk griff nach den Pflastern und reichte sie Max. Mit der Routine des geübten Mediziners befestigte er eines an seinem Oberarm und rutschte von der Liege. Anouk trat zum Waschbecken und wusch sich die Hände. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, dass er sie beobachtete. Hoffentlich fuhr er mit seiner Danksagung nicht fort.
»Du wirst es nicht glauben«, sagte er unvermittelt, und seine Stimme klang wie immer. »Aber ich habe Hunger.«
Sie atmete erleichtert auf und drehte sich um. »Doch«, erwiderte sie, »das glaube ich dir sofort – ich nämlich auch!« Sie lachten.
»Was machen wir nun mit dem Bild?«
Max zog sorgfältig die Hemdsärmel über seine Blessuren hinab und schaute Anouk fragend an. Die zog die Achseln hoch und stöhnte, als ihre Schulter mit einem schmerzhaften Stechen gegen diese Bewegung protestierte.
»Mir wäre es am liebsten, du behieltest es im Moment hier in deiner Praxis. Sonst attackiert uns das nächste Mal womöglich noch eine Horde Igel, wenn wir es in den Wagen bringen wollen.«
Er verzog das Gesicht. »Einverstanden! Morgen ist Samstag, da ist die Arztpraxis geschlossen. Es wird also keine neugierigen Fragen seitens meiner Sprechstundenhilfe geben.« Anouk nickte. Sie öffnete die Tür zum Korridor, hielt dann aber unvermittelt inne.
»Himmel«, wandte sie sich an Max, der ihr humpelnd folgte, »mir tut alles weh.«
»Dann sind wir schon zwei«, stellte er trocken fest. »Irgendwie witzig, nicht? Wir teilen in letzter Zeit nahezu alles miteinander, sogar den Schmerz.«
Anouk fröstelte plötzlich. Was vermutlich als Witz gemeint war, verursachte ihr ein ungutes Gefühl. Als ob Max’ Worte eine Prophezeiung wären, die schon bald ihrer beider Leben beeinflussen würde. Fragte sich nur, auf welche Weise.
Schloss Hallwyl, 1746
Auf Johannes’ Nachttisch brannte eine Kerze, die ein weiches Licht auf das wuchtige Bett warf. Daneben, in Reichweite des Kranken, befand sich eine Messingklingel. Der Duft von Lavendelöl lag in der Luft. Bernhardine reckte den Hals, konnte aber nur einen Teil des Kopfes oberhalb des Federbettes ausmachen. Vorsichtig trippelte sie auf den Zehenspitzen näher, damit ihre Absätze beim Auftreten nicht auf dem Boden klackten. Sollte sie lieber wieder gehen und Johannes schlafen lassen? Sie zögerte. Gerade als sie sich entschied, später wieder nach ihrem Gatten zu sehen, drehte er sich mit einem leisen Stöhnen um.
»Seid Ihr es, Madame?«
Seine Stimme klang rauh, als hätte er lange nicht mehr gesprochen. Er trug weder eine Schlafhaube noch ein Nachtgewand. Soweit sie erkennen konnte, hatte er immer noch sein Tageshemd an. Als sie den weißen Verband um seine Armbeuge bemerkte, hob sie missbilligend die Augenbrauen. Jemand hatte ihn zur Ader gelassen. Vermutlich der Verwalter, der sich nicht nur um die kranken Pferde kümmerte, sondern seine zweifelhaften medizinischen Dienste ab und an auch den Bewohnern des Schlosses angedeihen ließ. Sie hatte – dem Himmel sei Dank! – die fragwürdigen Bemühungen des Meiers noch nie in Anspruch nehmen müssen. Leider Gottes gab es hier im Hinterland aber auch kaum anständige Médecins. Der nächste Arzt wirkte im entlegenen Kloster Baldegg. Und während dieser
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