Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
Jahreszeit musste man ihm vermutlich ein Vermögen bieten, damit er seine warme Stube verließ.
»Oui, c’est moi«, antwortete sie, »ja, ich bin’s.« Sie setzte sich auf die Bettkante und ergriff Johannes’ bleiche Hand. »Was macht Ihr nur für Sachen, werter Gemahl?«, schimpfte sie. Über sein Gesicht lief ein Lächeln.
»Ihr habt recht, Madame. Alte Männer sollten lieber am Kamin sitzen und über vergangene Heldentaten schwadronieren, anstatt sich über die Wirrnisse des Lebens zu echauffieren.«
Bernhardine nickte, strich eine Falte auf der Bettdecke glatt und wollte sich schon wieder erheben, als sich Johannes’ Finger auf einmal um ihr Handgelenk schlossen und sie festhielten. Dann legte er seine Hand sachte auf die ihre.
»Geht noch nicht, Madame«, flüsterte er eindringlich, »ich muss etwas Wichtiges mit Euch besprechen!«
Marie warf sich im Bett hin und her. Sie konnte keinen Schlaf finden, schlug das Plumeau schließlich mit einem Seufzer ans Fußende des Bettes zurück und stand auf. Eisige Luft schnappte nach ihren bloßen Beinen. Sie fing an zu schlottern, zog ihr Nachthemd über die Knie und rieb die Füße aneinander.
Seit Stunden plagten sie hämmernde Kopfschmerzen, die sich weder mit Pfefferminztee noch mit einer Prise Schnupftabak hatten vertreiben lassen. Sie drückte Daumen und Zeigefinger gegen die Nasenwurzel, doch das Pochen blieb. Sie seufzte und machte sich auf den Weg zum Abort. Es war ein Kreuz mit dem Alter! Selbst das Wasserlassen wurde zu einer mühseligen Angelegenheit, wenn man nahezu jede Stunde auf den Abtritt musste.
Nächtliche Geräusche begleiteten sie auf ihrem Gang: knarrende Dielenbretter, der Wind, der durch Ritzen pfiff, pelzige Pfoten auf der Jagd nach Mäusen. Alles war wie immer und doch anders. Désirée! Keine leuchtenden Äuglein mehr, keine ausgestreckten Ärmchen oder dieses süße, glucksende Lachen, wenn Marie Grimassen für sie geschnitten hatte. Die zerzauste Puppe war das Einzige, was von ihrem Spätzchen übrig geblieben war. Und das Bild von Bernhardine und ihren Kindern hatte der Holländer noch nicht fertiggestellt. Die Gesichter fehlten noch zur Gänze. Ein Schluchzen stieg in Maries Kehle hoch. Sie war gescheitert. Gerolds schwarzer Zauber war mächtiger als ihre albernen Knoten, das Räucherwerk und die gemurmelten Beschwörungsformeln gewesen. Selbst der Anhänger mit dem Bergkristall hatte Désirée nicht schützen können. Der Abort befand sich direkt neben Gerolds Zimmer. Ein schmaler, gelber Lichtstreifen schimmerte unter der geschlossenen Tür hindurch. Dieser Mann war eine Bestie! Sicher heckte er in diesem Moment bereits weitere Teufeleien aus, um Bernhardine und den Kindern zu schaden.
Maries Rücken überzog sich mit einer Gänsehaut. Sie wagte kaum zu atmen und schlich leise am Gemach des Jüngeren von Hallwyl vorbei. Noch immer konnte sie nicht begreifen, was sie im Palas gesehen hatte. Ob das alles nicht doch nur ein Hirngespinst gewesen war? Hatte sich Bernhardines Schwager wirklich in einen Riesen verwandelt? Und dieses unheimliche Brausen, die Kälte und der Gestank. Hatte sie sich das alles nicht nur eingebildet? Und waren die schrecklichen Bilder nicht schlichtweg das Ergebnis ihrer überreizten Nerven gewesen? Aber der Holländer hatte es ebenfalls gesehen. Er war so weiß wie ein Bettlaken geworden, und Bernhardines Entsetzen hatte Marie bis in ihr Versteck hinein gespürt. Keiner hatte das furchterregende Geschehen danach auch nur mit einem Wort erwähnt. Als würde ein Benennen des Schreckens diesen erst zur unumstößlichen Tatsache machen. Stumm waren sie geflohen. Jeder mit sich und dem Erlebten beschäftigt; sich verstohlen umblickend, horchend, ob ihnen jemand oder etwas folgte.
Marie zitterte vor Kälte. Schnell verrichtete sie ihre Notdurft und hastete wieder zurück in ihre Kammer. Sie trat ans Fenster und öffnete einen Flügel. Unter sich hörte sie das Wasser in der Tiefe glucksen. Désirée, war dies das Letzte, was du gehört hast? Marie stützte sich schwer auf das Fenstersims und starrte ins Dunkel hinab. Der eiskalte Fluss verschlang alles und gab nichts mehr zurück. Erschüttert schloss sie die Augen.
»Wenn ich sterben sollte …«
Bernhardine erschrak und zog unwillkürlich ihre Hand zurück. Was redete Johannes da? Wieso sollte er sterben? Doch ein genauerer Blick in sein eingefallenes Gesicht rückte seine Aussage durchaus in den Bereich des Möglichen. Zuerst Désirée und nun ihr
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