Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
betete sie das Vaterunser so lange, bis der Schlaf sie schließlich übermannte.
14
Seengen, 2010
H eiliger Strohsack, Kind, was ist denn mit dir passiert?« Valerie Morlot schlug die Hände über dem Kopf zusammen, und als sie Max erblickte, der hinter Anouk die Eingangsstufen hinaufhinkte, stieß sie sogar einen Schrei aus. »Und der Herr Doktor auch? Hattet ihr einen Unfall?«
»So etwas in der Art«, erwiderte Anouk. »Wir sind aber, abgesehen von unseren äußeren Blessuren, okay. Ist noch etwas vom Abendessen übrig?«
Valeries Augen wurden groß. »Ihr solltet besser einen Arzt … oh!« Sie errötete, und Anouk verbiss sich ein Lachen. »Also essen. Ja, es sind noch Würstchen in der Pfanne.«
Herr van der Hulst saß am Küchentisch. Bei ihrem Anblick fiel ihm der Kartoffelsalat von der Gabel. Er starrte sie mit offenem Mund an, bis ihm bewusst wurde, dass dies unhöflich war, und er ihn langsam wieder schloss.
»Mon dieu!«, stieß er hervor und rutschte mit seinem Stuhl zur Seite, um Anouk und Max am Tisch Platz zu machen.
»Ist das …?«, fragte Max. Sein verschrammtes Gesicht begann, sich langsam zu verfärben. Morgen würde seine Haut in den schönsten Regenbogenfarben schillern.
»Der Künstler, ja«, bestätigte Anouk. »Er malt Tati in einem roten …« Sie brach ab und starrte ihn entgeistert an. »Das Kleid!«, stieß sie hervor und erhob sich so abrupt, dass ihr Stuhl umkippte und auf den Fliesenboden schlug. Im Wohnzimmer stand die Staffelei des Belgiers, darauf das angefangene Porträt. Ein feines Tuch schützte das Ölgemälde vor Staub und neugierigen Blicken. Anouk fühlte ein Kribbeln im Nacken, als sie ihre Hand nach dem Gewebe ausstreckte.
»Stopp!«
Sie wirbelte herum. Hinter ihr stand der Belgier, die Serviette noch um den Hals gebunden.
» Pas toucher! Nicht berühren!« Er funkelte sie böse an und stellte sich schützend vor das Gemälde.
»Aber ich …«
»Non!«
Anouk schüttelte verständnislos den Kopf. Herrgott, sie wollte doch nur sehen, ob es das gleiche Kleid war.
»Aber …«
»Non!«
»Was geht denn hier vor?«
Tati Valerie und der hinkende Max waren ihnen ins Wohnzimmer gefolgt. Max kaute an einem Stück Brot, ihre Großtante blickte abwechselnd vom einen zum anderen. Sie sah aus, als würde sie ein Tennismatch verfolgen.
»Sag deinem Untermieter bitte, dass ich mir das Bild anschauen möchte«, wandte sich Anouk an sie.
Ihre Großtante nickte, redete leise auf den Belgier ein, der mit finsterem Gesicht ihren Worten lauschte. Anouk verdrehte die Augen. Künstler!
Endlich trat er vor sein Gemälde, raffte vorsichtig das Tuch mit beiden Händen und zog es anschließend mit einer einzigen Bewegung vom Rahmen.
Anouk schnappte nach Luft, und Max riss die Augen auf.
Eine Motte kreiste mit sirrenden Flügeln um die Glühbirne. Anouk saß auf der Veranda und betrachtete den Mond, der unnatürlich groß am Himmel stand, als hätte er sich mit Luft aufgepumpt. Max drehte ein Weinglas zwischen den Fingern und hatte den Kopf gesenkt. Schon seit einer Weile hing jeder seinen Gedanken nach, nachdem sie zuvor lange erregt über das rote Kleid auf dem gefundenen Bild diskutiert hatten, das sich als nahezu identisch mit dem auf dem Gemälde des Belgiers erwiesen hatte. Zumindest seitdem dieser Tati Valeries Wunsch entsprochen und die gelbe Farbe ihres Kostüms in ein sattes Rot verwandelt hatte. Max hatte von einem Zufall gesprochen, Anouk von automatischem Malen unter Hypnose und danach noch von einer Fernsehdokumentation erzählt, in der über eine Pinselführung durch Geisterhand berichtet worden war. Ihrer beider Spekulationen waren immer abstruser geworden, bis sich Valerie darüber beschwert hatte, dass sie nicht einschlafen könne, wenn sie so einen Radau veranstalteten.
»Es muss einfach eine Erklärung dafür geben«, brach Anouk das Schweigen nun in trotzigem Ton, stand auf und lehnte sich mit verschränkten Armen ans Geländer. Die Motte hatte ihre Bemühungen, in die Glühbirne zu gelangen, aufgegeben. An ihrer Stelle prallte jetzt ein pudriger Nachtfalter rhythmisch gegen den Lampenschirm.
»Die würde ich nur zu gerne wissen.« Max’ Stimme klang müde.
Anouk hatte plötzlich ein schlechtes Gewissen. Wenn sie ihn nicht um Hilfe gebeten hätte, würde er jetzt friedlich in seinem Bett liegen. Unverletzt, vielleicht in den Armen einer liebenden Frau. Sie runzelte die Stirn. Hatte sie sich bisher überhaupt schon einmal die Frage gestellt, ob er
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