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Die Frau in Rot: Roman (German Edition)

Die Frau in Rot: Roman (German Edition)

Titel: Die Frau in Rot: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margot S. Baumann
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Ehren seiner einzigen Nichte abgehalten, und Gerold hielt es nicht einmal für nötig, dabei anwesend zu sein. Ob ihr Traum der Wahrheit entsprach? Hatte ihr Schwager Désirée mit Huldrichs Hilfe eigenhändig in den Fluss geworfen? Und begehrte er sie tatsächlich, wie sie es ihm im Traum auf den Kopf zugesagt hatte? Bei dem Gedanken wurde ihr speiübel. Sie zog ein Lavendelsäckchen aus ihrem Beutel und hielt es sich unter die Nase. Mit gleichmäßigen Atemzügen versuchte sie, ihren rebellierenden Magen zu besänftigen.
    Die Predigt zog sich dahin. Was wusste der Pfaffe schon von ihrer Tochter? Er schwafelte etwas von einem Engelchen und von unschuldigen Lämmchen. Am liebsten hätte sie ihn an seinem schwarzen Talar gepackt und heftig durchgeschüttelt. Er sollte besser von Strafe, Rache und Vergeltung predigen. Vom fünften und vom zehnten Gebot!
    Und was ist mit dem sechsten?, fragte eine leise Stimme in ihrem Kopf. Hast du nicht Gottes Gebot über den heiligen Ehestand gebrochen? Bernhardine schluckte. Sie sank in sich zusammen. Wie konnte sie von Gott erwarten, dass Er den Tod ihrer Tochter sühnte, wo sie doch selbst eine Sünderin war? Sie musste ernsthaft bereuen; musste Gott zeigen, dass sie beschämt und bußfertig war, dann würde Er Gerold vielleicht zur Rechenschaft ziehen. Doch wie sollte sie Ihm das offenbaren? Sie ließ ihren Blick über die Kirchgänger schweifen. Die meisten dösten in ihren Bänken, fest eingepackt gegen die klirrende Kälte dieses Adventmorgens. Von den Wänden bröckelte der Verputz, tiefe Risse zogen sich durch die Steinplatten des Mittelschiffes. Oberhalb der Kanzel klebte ein verlassenes Schwalbennest an der Mauer. Eine neue Kirche! Das war die Lösung. Sie würde Johannes bitten, eine Kirche zu bauen. Ein neues Gotteshaus zu Ehren des Allerhöchsten. Und sie würde Cornelis befehlen, das Schloss auf der Stelle zu verlassen. Die Erinnerung an ihre Nacht in der Kapelle würde sie ganz tief in ihrem Herzen vergraben; die Lust aus ihrem Körper verbannen. Unter Umständen würde sie sogar Johannes wieder beiwohnen, um ein weiteres Kind zu empfangen: eine Tochter.
    Der Pfarrer drehte seine Handflächen nach außen, und die Gemeinde erhob sich. Er sprach den Schlusssegen, klappte die Bibel zu und verließ die Kanzel. Zuerst kondolierte er dem Schlossherrn, der die tröstenden Worte mit versteinerter Miene entgegennahm, danach wandte er sich an Bernhardine.
    »Gott sei über Ihnen, um Sie zu segnen. Heute, morgen und allezeit.«
    »Amen«, flüsterte sie inbrünstig.

    Das ausgehobene Grab sah wie eine offene Wunde aus. Ringsum bedeckte eine jungfräulich weiße Schneedecke die flachen Hügel und die steinernen Kreuze. Der Frost hatte die Bäume und Sträucher mit einer durchsichtigen Glasur überzogen. Ab und zu knackte die Eisdecke des zugefrorenen Aabachs, der unweit des Gottesackers vorbeifloss. Ein paar Krähen hockten aufgeplustert auf der Steinmauer, die den Cimetière umgab. Johannes hatte nur ein paar ausgewählte Bürger auf den Friedhof geladen. Verwandte waren nicht zugegen. Es war ihnen bei diesem Wetter nicht möglich gewesen, diese rechtzeitig zu informieren. So standen nur zwanzig Leute neben dem dunklen Erdloch, das mit Tannenästen geschmückt war, um die nackte Erde zu verbergen. Ein Leinentuch verhüllte die kahlen Wände des Grabes. Die Totenglocke der Schlosskapelle klang dumpf über die Begräbnisstätte hinweg und hallte in Bernhardines Ohren. Einen Augenblick später stimmte die der Seenger Kirche mit ein. Der Pfarrer sprach schnell, man sah ihm an, dass er fror. Seine Lippen hatten sich bläulich verfärbt, die Bibel zitterte in seinen Händen.
    »Denn Du hast mein Inneres geschaffen, mich gewoben im Schoß meiner Mutter …«
    Cornelis stand zuhinterst und starrte auf einen imaginären Punkt am Horizont. Wie alle anderen Männer hatte auch er seine Pelzmütze abgenommen und hielt sie in den Händen. Sein gelocktes Haar war länger geworden, ringelte sich auf dem hochgeschlagenen Kragen seines Mantels. Was wohl in seinem Kopf vorging? Bedauerte er es, den Auftrag für das Porträt angenommen zu haben? Bereute er die gemeinsame Nacht?
    Bernhardine schüttelte den Kopf und versuchte, sich auf die salbungsvollen Worte des Priesters zu konzentrieren.
    »Deine Augen sahen, wie ich entstand, in Deinem Buch war schon alles verzeichnet; meine Tage waren schon gebildet, als noch keiner von ihnen da war.«
    Die Kälte kroch durch die fellgefütterten Stiefel

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