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Die Frau in Schwarz

Die Frau in Schwarz

Titel: Die Frau in Schwarz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Hill
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ein schmaler Weg war, der geradeaus führte und von dem man glauben konnte, er ende in der Flussmündung. Als wir darauf fuhren, wurde mir bewusst, dass dies der Nine Lives Causeway, der Neunlebendamm, war, und ich dachte mir, wie schnell er bei Flut überschwemmt sein musste und dann nicht mehr zu sehen wäre.
    Zuerst erreichte das Pferd den sandigen Weg, dann die Kalesche, und der Lärm des Gefährts verstummte. Von einem leisen, plätschernden Geräusch abgesehen, fuhren wir nun nahezu lautlos dahin. Da und dort waren knochenweiß gebleichte Riedbüschel zu sehen, die im geringsten Luftzug trocken raschelten. Die Sonne in unserem Rücken spiegelte sich im Wasser ringsum, so dass alles glänzte und glitzerte. Der Himmel hatte an den Rändern einen schwach rosigen Ton angenommen und tauchte auch die Marsch und das Wasser in ein zartes Rosa. Weil alles so blendete, dass meine Augen weh taten, wandte ich den Blick ab und sah, als rage es aus dem Wasser, ein hohes düsteres Haus aus grauem Stein mit Schieferdach, das jetzt im Licht stählern glänzte. Es ragte wie ein Leuchtturm über die gesamte Weite von Marsch und Flussmündung. Es war das am erstaunlichsten gelegene Haus, das ich je gesehen hatte, geschweige denn mir hätte vorstellen können – einsam, unbezwingbar, aber auch stattlich, wie ich fand. Beim Näherkommen sah ich, dass es auf einer mit salzgebleichtem Gras bewachsenen und in Kies auslaufenden Erhöhung stand, die an allen Seiten etwa drei- bis vierhundert Meter weit reichte. Diese kleine Insel erstreckte sich in südlicher Richtung als eine unkrautüberwucherte Fläche zu den Ruinen einer alten Kirche oder Kapelle.
    Ein rauhes Scharren ertönte, als das Gefährt den Kies erreichte. Dann hielt es an. Wir waren am Eel Marsh House angelangt. Ich blieb kurz sitzen und schaute mich benommen um. Nichts war zu hören als ein schwaches Pfeifen des winterlichen Windes, der über das Sumpfgebiet blies, und das plötzliche Krächzen eines Vogels. Ein eigenartiges Gefühl überkam mich, eine Erregung, mit Besorgnis gemischt – ich konnte es nicht genau deuten. Ganz sicher empfand ich Einsamkeit, denn trotz des wortkargen Keckwick und des zottigen braunen Pferdes fühlte ich mich hier vor dem verlassenen Haus unendlich allein. Aber ich hatte keine Angst – wovor sollte ich an diesem ungewöhnlichen und schönen Flecken Erde auch Angst haben? Dem Wind? Den schreienden Marschvögeln? Dem Ried und dem stillen Wasser?
    Schließlich stieg ich aus und ging zu Keckwick. »Wie lange wird der Damm passierbar bleiben?«
    »Bis fünf.«
    Das bedeutete, dass ich kaum mehr Zeit haben würde, als mich kurz umzusehen, mich mit dem Haus vertraut zu machen und vielleicht mit der Suche nach den Papieren zumindest anzufangen, bevor er mich wieder abholte. Ich wollte jedoch nicht so schnell wieder von hier weg. Ich war fasziniert von diesem Ort, ich wollte, dass Keckwick wegfuhr, damit ich ungestört und in aller Ruhe herumwandern und alles in mich aufnehmen konnte. »Hören Sie«, ich traf eine rasche Entscheidung. »Es ist völlig unnötig, dass Sie zweimal am Tag hin- und herfahren. Das Beste wird sein, dass ich mein Gepäck und zu essen und trinken hierherbringe und etwa zwei Tage hierbleibe. Auf diese Weise kann ich meiner Arbeit besser und schneller nachgehen, und Sie werden nicht belästigt. Ich werde heute am Spätnachmittag mit Ihnen zurückkehren, und vielleicht könnten Sie mich dann morgen, sobald die Gezeiten es zulassen, wieder hierherfahren?« Ich wartete und fragte mich, ob er mich davon abhalten, ob er Einwände erheben oder mich gar ganz abschrecken wollte mit ähnlichen unheimlichen Andeutungen.
    Er überlegte eine Weile, musste aber erkannt haben, wie fest entschlossen ich war, denn schließlich nickte er.
    »Oder möchten Sie lieber gleich hier auf mich warten? Allerdings würde ich Sie dann etwa zwei Stunden aufhalten. Überlegen Sie, was für Sie das Beste ist.«
    Als Antwort griff er nach dem Zügel und wendete die Kalesche. Minuten später schienen sie auf dem Damm zu schrumpfen und wurden zu winzigen Figuren in der Unendlichkeit von Marsch und Himmel. Ich drehte mich um und schritt zur Vorderseite von Eel Marsh House. Mein Finger umschloss bereits den Haustürschlüssel.
    Aber ich ging nicht ins Haus, noch nicht. Ich wollte erst die Stille und die geheimnisvolle, schimmernde Schönheit in mich aufsaugen, den eigenartigen Salzgeruch, den der Wind herbeitrug, und auf den leisesten Laut lauschen. Ich

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