Die Frau in Schwarz
spürte, wie sich alle meine Sinne schärften, und dass sich dieser ungewöhnliche Ort tief in meine Seele einprägte und meine Phantasie anregte. Zweifelsfrei würden mich diese Einsamkeit und Stille, wenn ich länger bliebe, süchtig machen. Vielleicht würde ich hier sogar zum Vogelkundler werden, denn gewiss gab es hier viele seltene Vögel, Stelz- und Tauchvögel, Wildenten und -gänse – vor allem im Frühjahr und Herbst. Mit Hilfe von Büchern und einem guten Fernglas würde ich sie bald an ihrem Flug und ihren Stimmen erkennen.
Und während ich im Freien herumwanderte, dachte ich darüber nach, wie schön es wäre, hier zu leben. Ich malte mir aus, wie es für Stella und mich wäre, allein in dieser abgelegenen Wildnis zu sein. Vorsichtshalber verdrängte ich die Frage, wovon wir dann leben und womit wir uns Tag für Tag beschäftigen sollten.
Während ich diesen Tagträumen nachhing, entfernte ich mich vom Haus über das Feld in Richtung der Ruinen. Im Westen, rechts von mir, verwandelte sich die Sonne bereits zu einer winterlichen, rotgoldenen Scheibe, die Feuerpfeile und blutrote Streifen über das Wasser schoss. Im Osten hatten sich See und Himmel zu eintönigem Bleigrau verdüstert. Der Wind, der plötzlich von der Mündung kam, war eisig. Als ich mich den Ruinen näherte, erkannte ich, dass sie tatsächlich die einer alten Kapelle waren, einer Klosterkapelle möglicherweise. Schutt und Steine lagen, vermutlich von einem Sturm, im Gras verstreut. Der Boden fiel zum Ufer der Flussmündung leicht ab, und als ich durch einen alten Torbogen ging, scheuchte ich einen Vogel auf. Mit lautem Flügelschlag stieg er hoch, und sein Krächzen hallte von den noch stehenden alten Wänden wider. Ein anderer, weiter entfernter Vogel nahm seinen Schrei auf. Es war eine hässliche, bösartige Kreatur, eine Art Seegeier – falls es so etwas gab –, und mich schauderte, als sein Schatten mich streifte. Erleichtert beobachtete ich, wie er schwerfällig zum Meer flog. Erst dann bemerkte ich, dass der Boden zu meinen Füßen und zwischen den herumliegenden Steinen der Ruine eine eklige weiche Masse Vogelkot war, und schloss daraus, dass diese Vögel in den Ruinenmauern nisteten.
Ansonsten gefiel mir dieser einsame Ort, und ich überlegte, wie es hier an einem warmen Sommerabend sein musste, wenn eine milde Meeresbrise über das hohe Gras blies und weiße und gelbe und rosa Wildblumen zwischen den geborstenen Steinen blühten und sich an ihnen emporrankten, wenn die Schatten allmählich wuchsen und Junivögel ihre schönsten Lieder trillerten und in der Ferne die Wellen über den Sand spülten.
In meine Gedanken versunken, gelangte ich zu einem kleinen Friedhof. Er war von den Resten einer Mauer umgeben, und ich hielt, erstaunt über diesen Anblick, an. Etwa fünfzig alte Grabsteine befanden sich hier, die meisten windschief oder umgekippt, mit seltsamen Mustern von grüngelben Flechten und Moos bedeckt und vom Salzwind und endlosen Jahren peitschenden Regens weißgescheuert. Die Grabhügel waren gras- und unkrautüberwuchert oder überhaupt nicht mehr erkennbar. Namen oder Daten waren nicht zu entziffern, und alles wirkte vergessen und verwahrlost. Geradeaus, wo die Mauer in einem Schutthaufen endete, kräuselte sich das graue Wasser der Flussmündung. In diesem Moment schwand das letzte Sonnenlicht, ein plötzlicher Windstoß raschelte durchs Gras, und über meinem Kopf segelte einer dieser hässlichen schlangenhalsigen Vögel zu der Ruine zurück. In seinem Schnabel hielt er einen Fisch, der sich hilflos wand. Ich beobachtete, wie der Vogel sich niederließ und dabei einige Steine löste, die irgendwo, außer Sicht, auf den Boden schlugen.
Plötzlich wurde ich mir der Kälte bewusst und wie düster und unheimlich es hier war und dass es bereits dämmerte. Da ich nicht wollte, dass dies auf meine Stimmung drückte und ich am Ende noch empfänglich für alles mögliche Schauerliche würde, beschloss ich, rasch zum Haus zu gehen, dort möglichst viele Lichter anzuzünden, ja vielleicht sogar Feuer im Kamin zu machen, falls das möglich war, und mich dann mit Mrs. Drablows Papieren zu beschäftigen. Aber als ich losmarschierte, blickte ich noch einmal kurz zum Friedhof – und sah die Frau mit dem eingefallenen Gesicht wieder, die bei Mrs. Drablows Beerdigung gewesen war. Sie befand sich am hinteren Ende des Friedhofs, dicht neben einem noch aufrecht stehenden Grabstein, und trug dieselbe Kleidung und den gleichen
Weitere Kostenlose Bücher