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Die Frau in Schwarz

Die Frau in Schwarz

Titel: Die Frau in Schwarz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Hill
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meinem Innern noch ringsum. Ich wusste, dass ich in eine bisher ungeahnte – ja, unglaubliche – Bewusstseinsdimension gelangt war. Allein die Anwesenheit an diesem Ort hatte mich verändert, und ich würde nie mehr so sein wie zuvor. Denn heute hatte ich Dinge gesehen und gehört, die weit jenseits meiner Vorstellungskraft lagen. Dass die Frau an den Gräbern ein Geist gewesen war, glaubte ich jetzt nicht nur, ich wusste es. Diese Überzeugung hatte sich mir vielleicht während meines qualvollen Schlafes tief und unauslöschlich eingeprägt. Doch das war nicht alles. In mir regte sich der Verdacht, dass der Pferdewagen mit dem schreienden Kind – der in den Schwemmsand gesogen worden war, während der plötzliche Nebel Marsch, Flussmündung, Land und See verhüllt und ich mich mittendrin verirrt hatte – ebenso wenig real gewesen war. Ich meine, dass sie nicht tatsächlich dort gewesen, sondern unstofflich, geisterhaft gewesen waren. Was ich gehört hatte, hatte ich gehört, so deutlich, wie ich jetzt das Rumpeln der Räder und das Trommeln der Pferdehufe hörte. Und was ich gesehen hatte – die Frau mit dem bleichen, ausgemergelten Gesicht an Mrs. Drablows Grab und später auf dem alten, verlassenen Friedhof –, hatte ich gesehen.
    Nachdem ich nun nicht mehr daran zweifelte, wurde ich ruhiger. Wir ließen Marsch und Flussmündung hinter uns und fuhren mitten in dieser stillen Nacht die Straßen entlang. Ich nahm an, dass ich den Wirt des GIFFORD ARMS durch Klopfen aufwecken konnte, damit er mich einließ. Ich wollte einfach nur noch in das bequeme Bett sinken, schlafen und versuchen, all diese Erlebnisse aus meinem Kopf und meinem Herzen zu verbannen und nicht mehr an sie zu denken. Morgen bei Tageslicht würde ich mich wieder fassen und überlegen, was zu tun war. In diesem Moment jedenfalls wusste ich, dass mir nichts mehr widerstrebte, als nach Eel Marsh House zurückzukehren, und dass ich eine Möglichkeit finden musste, Mrs. Drablows Nachlassregelung in andere Hände zu legen. Ob ich mir für Mr. Bentley eine Ausrede einfallen lassen oder versuchen würde, ihm die Wahrheit zu gestehen und zu hoffen, dass er sich nicht über mich lustig machte, wollte ich jetzt nicht entscheiden.
    Erst als ich mich für die Nacht fertig machte – der Wirt war ungemein mitfühlend und gefällig gewesen –, dachte ich wieder über Keckwicks außerordentliche Zuvorkommenheit nach, mich zu holen, sobald Nebel und Flut es zugelassen hatten. Jeder hätte es verstanden, wenn er sich zur Ruhe begeben und beschlossen hätte, mich in aller Früh abzuholen. Aber offenbar war er wach geblieben, ja hatte vielleicht sogar sein Pferd eingespannt gelassen, um mir zu ersparen, dass ich die ganze Nacht allein in dem Haus verbringen musste. Ich war ihm unendlich dankbar und beabsichtigte, es ihm großzügig zu lohnen. Als ich endlich ins Bett kroch, war es bereits nach drei, aber es würde noch etwa fünf Stunden dauern, bis es hell wurde. Der Wirt hatte mir geraten, so lange zu schlafen, wie ich nur konnte, niemand würde mich stören, und ich bekäme mein Frühstück, wann immer ich wollte. Wie Keckwick war auch er besorgt um mein Wohlergehen. Und bei beiden spürte ich dieselbe Reserviertheit, diese Barriere gegen mögliche Fragen, die ich jedoch klug genug war nicht zu stellen. Wer konnte wissen, was sie gesehen und gehört hatten, wie viel sie über die Vergangenheit und alle möglichen Ereignisse wussten, ganz zu schweigen von Gerüchten, vom Hörensagen und Aberglauben. Das bisschen, was ich erlebt hatte, genügte mir vollkommen, und mir war absolut nicht danach, nach möglichen Erklärungen zu forschen.
    Das waren die letzten Gedanken in jener Nacht, bevor mein Kopf in das weiche Kissen sank und ich schließlich in einen unruhigen, leichten Schlaf fiel. Gestalten kamen und gingen, die mir so zusetzten, dass ich ein paarmal durch meine eigenen Schreie hochschreckte. Ich schwitzte, wälzte mich herum, versuchte, mich aus meinen Alpträumen zu lösen, meiner halbbewussten Ahnung von dem bevorstehenden Grauen zu entkommen. Und die ganze Zeit drang immer wieder dieses panische Wiehern des Pferdes und das Rufen und Wimmern des Kindes durch meine Träume, während ich hilflos und wie angewurzelt im Nebel stand und hinter mir die Frau in Schwarz zwar nicht sehen, aber sehr wohl spüren konnte.

Mr. Jeromes Angst
    A ls ich erwachte, schien die Wintersonne hell in das freundliche Gästezimmer. Aber müde und voll Bitterkeit

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