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Die Frau in Schwarz

Die Frau in Schwarz

Titel: Die Frau in Schwarz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Hill
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Gepäckträger.
    »Es steht im Hinterhof, Sir. Nehmen Sie es sich einfach, wenn Sie Lust haben.« Dann verließ er die Gaststube.
    Der Gedanke, eine Stunde oder auch länger Rad zu fahren, die Schrecken der Nacht zu vertreiben, wieder einen klaren Kopf zu bekommen, war aufmunternd, und meine Stimmung besserte sich. Ich würde doch nicht davonlaufen!
    Stattdessen beschloss ich, Mr. Jerome aufzusuchen und mit ihm zu sprechen. Ich hatte vor, ihn um Hilfe bei der Durchsicht von Mrs. Drablows Papieren zu bitten – vielleicht hatte er einen Gehilfen, den er entbehren konnte. Ich war inzwischen jedenfalls sicher, dass ich im hellen Tageslicht und in Gesellschaft imstande sein würde, mich wieder in dem Haus umzusehen. Ich würde rechtzeitig vor Anbruch der Dunkelheit nach Crythin Gifford zurückkehren und so methodisch und gründlich arbeiten wie nur möglich. Ich würde auch keinen Spaziergang mehr zu dem zerfallenen Friedhof machen.
    Es war erstaunlich, wie das körperliche Wohlbefinden meine Stimmung gehoben hatte, und als ich auf den Marktplatz hinaustrat, hatte ich fast mein altes, gewohnt ausgeglichenes und heiteres Ich zurückgewonnen, und erwartungsvolle Freude auf die Radtour überkam mich.
    Ich fand das Büro von Horatio Jerome, Immobilienmakler – zwei winzige, niedrige Räume über dem Laden eines Getreidehändlers in einer schmalen Straße, die vom Marktplatz abzweigte –, und blickte mich nach einem Gehilfen oder Sekretär um, der mich anmelden könnte, doch da war niemand. Es war vollkommen still, das Vorzimmer schäbig und leer. Nachdem ich ein paar Augenblicke unschlüssig dagestanden hatte, trat ich zu der einzigen anderen geschlossenen Tür und klopfte. Kurz darauf scharrten Stuhlbeine über den Boden, und rasche Schritte kamen auf die Tür zu. Mr. Jerome selbst öffnete sie.
    Ich erkannte sofort, dass er sich keineswegs über meinen Besuch freute. Sein Gesicht nahm den gleichen verschlossenen und undeutbaren Ausdruck an wie gestern, er zögerte, ehe er mich in sein Büro bat und mich mit seltsamen Seitenblicken musterte. Ich schwieg, weil ich erwartete, dass er mich fragen würde, wie es mir in Eel Marsh House ergangen war, aber er sagte gar nichts.
    Also begann ich, ihm meinen Vorschlag zu unterbreiten: »Sie müssen wissen, ich hatte keine Ahnung. Ich weiß auch nicht, ob Sie eine Vorstellung hatten – von den Unmengen von Papieren, die Mrs. Drablow angesammelt hat. Ganze Tonnen, wie es scheint, und das meiste, vermute ich, gleich zum Wegwerfen. Aber ich muss es trotzdem Stück um Stück durchsehen. Es besteht kein Zweifel, dass ich dabei Hilfe brauche, wenn ich nicht auf unvorhersehbare Dauer mein Domizil in Crythin Gifford aufschlagen will.«
    Mr. Jeromes Miene verriet Panik. Er rutschte seinen Stuhl hinter dem Schreibtisch zurück, weiter von mir weg, und ich hatte das Gefühl, er hätte ihn auch noch durch die Wand auf die Straße geschoben, wenn das möglich gewesen wäre. »Ich fürchte, ich kann mich nicht erbieten, Ihnen zu helfen, Mr. Kipps. O nein!«
    »Ich hatte auch nicht mit Ihnen persönlich gerechnet«, versuchte ich, ihn zu beruhigen. »Aber vielleicht haben Sie einen Gehilfen?«
    »Nein. Ich bin völlig allein. Ich kann Ihnen in keiner Weise helfen.«
    »Doch. Sie könnten mir helfen, jemanden zu finden. Gewiss gibt es in diesem Städtchen doch irgendeinen jungen Mann, der einigermaßen intelligent ist und sich ganz gern etwas dazuverdienen möchte.«
    Ich bemerkte, dass seine Hände unruhig an den Armlehnen auf und ab glitten und sich abwechselnd verkrampften und öffneten.
    »Tut mir leid. Es ist ein kleiner Ort … junge Leute gehen weg … hier gibt es keine Arbeit für sie.«
    »Aber ich biete eine an – wenngleich nur vorübergehend.«
    »Sie werden niemand Passenden finden!« Er schrie fast.
    Da sagte ich leise und ruhig: »Mr. Jerome, Sie meinen damit doch sicher nicht, dass es niemanden gibt, dass kein junger Mann – oder auch ein älterer – in dieser Stadt gefunden werden könnte, der imstande wäre und Zeit hätte, die Arbeit zu tun, falls wir gründlich suchten? Gewiss würde es nicht viele Bewerber geben, aber ein oder zwei würden sich bestimmt melden. Sie wollen nur nicht mit der Wahrheit herausrücken, dass sich wahrscheinlich niemand bereit erklären würde, Eel Marsh House zu betreten, aus Angst, die Gerüchte darüber könnten stimmen – aus Angst, dort zu erleben, was ich bereits erlebt habe.«
    Nun herrschte völliges Schweigen.

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