Die Frau in Schwarz
Mr. Jeromes Hände arbeiteten noch verzweifelter. Seine bleiche gewölbte Stirn glitzerte von Schweiß. Schließlich stand er auf, kippte dabei fast seinen Stuhl um und ging zu dem schmalen Fenster, um durch die schmutzige Scheibe auf die gegenüberliegende Straßenseite zu blicken. Mit dem Rücken zu mir sagte er schließlich: »Keckwick hat Sie abgeholt.«
»Ja, dafür bin ich ihm dankbarer, als ich mit Worten ausdrücken könnte.«
»Es gibt nichts, was Keckwick über Eel Marsh House nicht weiß.«
»Ich vermute, er hat manchmal Einkäufe für Mrs. Drablow erledigt?«
Mr. Jerome nickte. »Er war der Einzige, den sie je in ihre Nähe ließ. Sonst …« Er verstummte.
»Keine andere lebende Seele«, warf ich ruhig ein.
Als er wieder sprach, klang seine Stimme rauh und müde. »Es gibt Gerüchte«, sagte er, »Geschichten. Diesen ganzen Unsinn.«
»Das kann ich mir gut vorstellen. Diese Gegend erscheint mir wie ein Nährboden für gruselige Geschichten über Marschungeheuer und Irrlichter und dergleichen.«
»Das meiste ist reine Phantasie.«
»Natürlich. Aber nicht alles.«
»Sie haben die Frau auf dem Friedhof gesehen.«
»Ja, und später noch einmal. Nachdem Keckwick mich gestern Nachmittag abgesetzt hatte, machte ich einen Spaziergang um das Haus. Sie war auf dem alten verfallenen Friedhof. Was sind das dort für Ruinen – die einer Kirche oder Kapelle?«
»Auf der Insel gab es einst ein Kloster. Lange bevor das Haus gebaut wurde. Ein kleiner Orden, der sich vom Rest der Welt absonderte. Es gibt Unterlagen darüber in den Archiven des County. Es wurde verlassen, dem Verfall preisgegeben – schon vor ein paar hundert Jahren.«
»Und der Friedhof?«
»Wurde auch … später noch gelegentlich genutzt. Ein paar Gräber.«
»Die Drablows?«
Er wandte sich plötzlich zu mir um. Sein Gesicht wirkte jetzt fahlgrau. Da wurde mir bewusst, wie sehr ihn unser Gespräch mitnahm, und dass er es wahrscheinlich lieber beenden würde. Ich musste neu disponieren, aber in diesem Augenblick beschloss ich, jeglichen Versuch aufzugeben, mit Mr. Jerome zusammenzuarbeiten, und stattdessen Mr. Bentley in London anzurufen. Dazu musste ich ins GIFFORD ARMS zurück.
»Nun«, sagte ich, »ich werde mich nicht von einem Geist oder auch mehreren von meiner Arbeit abhalten lassen, Mr. Jerome. Es war unerfreulich, und ich gestehe, ich bin froh, wenn ich jemanden finde, der mir bei meiner Arbeit in Eel Marsh House hilft. Aber sie muss getan werden. Und ich bezweifle, dass die Frau in Schwarz etwas gegen mich hat. Ich frage mich, wer sie war. Ist. « Ich lachte, doch es klang nicht echt. »Ich weiß nicht einmal, wie ich sie nennen soll.« Ich versuchte, etwas zu verharmlosen, von dem wir beide wussten, wie ernst es war, es als unbedeutend, ja als nicht existent abzutun, obwohl es uns beide wahrscheinlich tiefer berührte als alle anderen bisherigen Erlebnisse, denn es führte uns geradewegs an den Rand des Horizonts, wo Leben und Tod zusammentreffen. »Ich muss es durchstehen, Mr. Jerome. Solchen Dingen muss man sich stellen.« Und noch während ich das sagte, spürte ich eine neue Entschlossenheit in mir wachsen.
»So habe ich auch geredet.« Mr. Jerome blickte mich mitleidig an. »Genau so … früher.«
Doch seine Angst stärkte nur meinen Entschluss. Er hatte sich geschlagen gegeben, wovon? Einer Frau? Ein paar Geräuschen? Oder gab es noch mehr, das ich selbst herausfinden sollte? Ich wusste, dass er nicht antworten würde, wenn ich ihn fragte, außerdem war ich mir gar nicht so sicher, ob ich die bestürzenden und gespenstischen Geschichten von Mr. Jeromes Erlebnissen in Eel Marsh House hören wollte. Ich sagte mir, wenn ich der Wahrheit auf den Grund kommen wollte, musste ich mich auf die Eindrücke meiner eigenen Sinne verlassen, auf sonst nichts. Vielleicht wäre es doch besser, keinen Gehilfen mitzunehmen. Ich verabschiedete mich von Mr. Jerome und erwähnte beim Gehen, dass ich höchstwahrscheinlich keine Frau in Schwarz und keine anderen ungewöhnlichen Besucher im Haus der verstorbenen Mrs. Drablow mehr sehen würde.
»Das hoffe ich sehr für Sie«, sagte Mr. Jerome und drückte meine Hand außerordentlich heftig, während er sie schüttelte. »Ich hoffe es sehr.«
»Machen Sie sich meinetwegen keine Sorgen.« Ich bemühte mich, sorglos, ja fröhlich zu klingen. Dann rannte ich die Treppe hinunter und überließ Mr. Jerome seinen Ängsten.
Ich kehrte zum GIFFORD ARMS zurück, doch anstatt
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