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Die Frau in Schwarz

Die Frau in Schwarz

Titel: Die Frau in Schwarz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Hill
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hatte. Die Luft war frisch und sauber, ich atmete sie tief und genussvoll und völlig entspannt ein und spazierte um das Grundstück herum. Hin und wieder warf ich für Spider ein Stöckchen, dem sie begeistert nachjagte und das sie mir immer wiederbrachte. Ich ging sogar bis zu dem alten Friedhof, und Spider rannte hin und her, versuchte, tatsächliche oder eingebildete Kaninchen aufzustöbern, scharrte mit den Vorderpfoten energisch in Löchern und raste dann aufgeregt davon. Wir sahen niemanden. Kein Schatten fiel auf das Gras.
    Eine Zeitlang spazierte ich zwischen den alten Grabsteinen herum, versuchte, einige der Namen zu entziffern, doch ohne Erfolg, bis ich die Ecke erreichte, in der beim letzten Mal die Frau in Schwarz gestanden hatte. Auf dem Grabstein, an den sie sich meiner Erinnerung nach gelehnt hatte, glaubte ich, den Namen Humfrye zu erkennen. Die Buchstaben waren mit Salz verkrustet, das Stürme im Lauf vieler Jahre mit strengen Wintern von der Flussmündung hergeblasen haben mussten.

In lieb…denken
J…net Humfrye
… 180 …
… im Himm…

    Ich erinnerte mich, dass Mr. Jerome etwas von einigen nicht mehr benutzten Grabstätten der Familie Drablow außerhalb des Friedhofs von Crythin Gifford angedeutet hatte, und schloss, dass dies die letzte Ruhestätte irgendwelcher Vorfahren von Mrs. Drablow sein müsste. Jedenfalls war sicher, dass sich hier nichts außer alten Gebeinen befand, und ich hatte nicht die geringste Angst, ja war im Gegenteil völlig ruhig, während ich dort stand und die Stelle betrachtete, die mir das letzte Mal so unheimlich, so finster und voll Grauen erschienen war, in Wirklichkeit jedoch, wie ich jetzt erkannte, lediglich melancholisch wirkte, weil sie so verfallen und verlassen war. Es war die Art von Szenerie, von der vor hundert Jahren romantisch veranlagte Dichter zu düsteren, schwermütigen Versen inspiriert worden wären.
    Ich kehrte mit der Hündin zum Haus zurück, denn die Luft wurde bereits kalt, und der Himmel verlor seine strahlende Helligkeit, als die Sonne tiefer sank.
    Als ich wieder im Haus war, machte ich mir eine neue Kanne Tee, schürte die Feuer und legte Holz nach. Bevor ich mich wieder über die langweiligen Papiere setzte, blätterte ich ein wenig durch die Bücher in den Wohnzimmerschränken und suchte mir für später, vor dem Schlafengehen, einen Roman von Sir Walter Scott und einen Gedichtband von John Clare aus. Ich trug die beiden Bücher hinauf in das kleine Schlafzimmer, das ich ausgewählt hatte – hauptsächlich, weil es im vorderen Teil des Hauses lag, aber nicht so groß und kalt war wie die anderen, und deshalb, wie ich dachte, gemütlicher sein würde. Vom Fenster aus konnte ich einen abseits der Flussmündung liegenden Teil der Marsch sehen, und wenn ich mir den Hals ein bisschen verrenkte, einen Bereich des Damms.
    Ich arbeitete bis in den Abend hinein, und als es zu dämmern begann, machte ich jede Lampe an, die ich nur finden konnte, zog die Vorhänge zu und holte Holz und Kohle von dem großen Vorrat, den ich in einem Nebengebäude, gleich außerhalb der Speisekammer, entdeckt hatte.
    Der Haufen aussortierter unwichtiger Papiere in dem Kasten wuchs, ganz im Gegensatz zu dem Stoß jener, die meines Erachtens gründlicher durchgesehen werden mussten. Ich schleppte weitere Schachteln und Schubläden voll aus allen möglichen Zimmern herbei. Wenn ich so weitermachte, würde ich höchstens noch eineinhalb Tage brauchen. Zu meinem etwas kargen, aber nicht unschmackhaften Abendessen, das ich mit Spider teilte, trank ich ein Glas Sherry und beschloss dann, des ewigen Überfliegens von Papieren müde, noch einen kurzen Spaziergang mit ihr zu machen, ehe ich das Haus für die Nacht zuschloss.

    Ich habe die Ereignisse – oder vielmehr die Ereignislosigkeit – dieses Tages in Eel Marsh House so genau geschildert, wie ich mich erinnere, um zu verdeutlichen, in welch ausgeglichener Verfassung ich mich befand, und dass ich die erschreckenden Begebenheiten ganz aus meinem Bewusstsein verdrängt hatte. Falls ich wirklich flüchtig daran dachte, dann mit einer Art Gleichgültigkeit. Nichts sonst war geschehen, nichts war mir widerfahren. Tag und Abend waren ruhig, ereignislos, eben völlig alltäglich verlaufen. Spider war eine großartige Gefährtin, und ich war froh, ihr leises Atmen zu hören, hin und wieder ihr Kratzen und Scharren in diesem riesigen, verlassenen alten Haus. Aber hauptsächlich empfand ich Langeweile, die

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