Die Frau in Schwarz
ein balustradengeschützter Gang lief rund um das Haus, mit Blick über die etwas langweiligen, gepflegten Rasenflächen mit gestutzten Hecken. Der Gesamteindruck war grandios, aber kühl und passte irgendwie überhaupt nicht zu Mr. Daily. Ganz offensichtlich hatte er das Anwesen erstanden, weil er genug Geld hatte und es der vornehmste und größte Besitz weit und breit war. Aber nachdem es ihm nun gehörte, schien er sich in dem Haus nicht sehr wohl zu fühlen, und ich fragte mich, wie viele Zimmer die meiste Zeit leer und unbenutzt waren; denn von ein paar Dienstboten abgesehen, wohnten dort nur er und seine Frau, obwohl sie einen Sohn hatten, wie er mir erzählte, der selbst verheiratet und bereits Vater war.
Mrs. Daily war eine stille, schüchterne, zerbrechlich wirkende, kleine Frau, die sich in dieser Umgebung sichtlich noch weniger wohl fühlte als er. Sie redete kaum, lächelte scheu und häkelte etwas sehr Kunstvolles aus feinem Garn.
Trotzdem empfingen sie mich freundlich und ließen mich spüren, dass ich herzlich willkommen war. Das Essen war ausgezeichnet, es gab Fasan und als Nachspeise Torte. Ich begann, mich hier zu Hause zu fühlen.
Vor und während des Abendessens sowie beim Kaffee, den Mrs. Daily uns im Wohnzimmer einschenkte, lauschte ich Samuel Dailys kurzen Reminiszenzen über sein Leben und die Vermehrung seines Vermögens. Er prahlte nicht, sondern gab eher seiner Freude über sein Glück und seinen Unternehmergeist Ausdruck. Er zählte die Morgen Land und die Anwesen auf, die ihm gehörten, die Männer, die für ihn arbeiteten oder seine Pächter waren, weihte mich in seine Pläne für die Zukunft ein, die, soweit ich es sah, darin gipfelten, dass er der größte Landbesitzer des County sein wollte. Er erzählte von seinem Sohn und seinem kleinen Enkel, für die er dieses Reich aufbaute. Er mochte Neider und Feinde haben, dachte ich, vor allem unter seinen Konkurrenten beim Kauf bestimmter Anwesen. Aber unbeliebt war er bestimmt nicht. Er war so offen, so ehrlich, machte keinen Hehl aus seinen Absichten und schämte sich ihrer auch nicht. Er schien scharfsinnig zu sein, aber nicht gerissen, ein schlauer Verhandlungspartner, doch von Grund auf ehrlich. Im Lauf des Abends wurde er mir immer sympathischer, ich vertraute mich ihm an, erzählte ihm von meinen, allerdings im Vergleich zu seinen unbedeutenden, Ambitionen – Mr. Bentleys Sozius zu werden –, von Stella und unseren Plänen für die Zukunft. Erst nachdem die schüchterne Mrs. Daily sich zurückgezogen hatte und wir im Arbeitszimmer saßen, mit einer Karaffe guten Portweins und einer Flasche Whisky auf einem Beistelltischchen zwischen uns, kam das Gespräch auf den Grund meiner Anwesenheit in der Gegend.
Mr. Daily schenkte mir ein Glas mit Portwein bis oben hin voll und sagte, als er es mir reichte: »Sie sind ein Narr, wenn Sie weitermachen.«
Ich nahm ruhig ein oder zwei Schlucke, ohne zu antworten, obwohl etwas an der Schroffheit seiner Worte eine tiefe Angst in mir weckte, die ich jedoch sofort unterdrückte. »Sie meinen, ich sollte den Auftrag, mit dem ich hierhergeschickt wurde, einfach aufgeben und davonlaufen?«
»Hören Sie zu, Arthur.« Er hatte angefangen, mich auf onkelhafte Weise beim Vornamen zu nennen, ohne mich aufzufordern, auch ihn mit Vornamen anzusprechen. »Ich habe nicht vor, Ihnen mit irgendwelchen Altweibergeschichten zu kommen – die könnten Sie auch erfahren, wenn Sie im Ort ein wenig herumfragen. Vielleicht haben Sie das sogar schon.«
»Nein«, antwortete ich, »man hat nur Andeutungen gemacht. Und Mr. Jerome ist ein wenig blass geworden.«
»Aber Sie haben sich das Haus angesehen?«
»Ich war dort und habe etwas erlebt, das ich nicht noch einmal durchmachen möchte. Ich muss gestehen, erklären könnte ich es nicht.«
Doch dann erzählte ich ihm die ganze Geschichte von der Frau mit dem ausgemergelten Gesicht bei der Beerdigung und auf dem verfallenen Friedhof, von meinem Spaziergang über den Damm im Nebel, und von den grauenvollen Lauten, die ich dort gehört hatte. Er saß unbewegt da und hörte mir zu, ohne mich auch nur einmal zu unterbrechen, bis ich am Ende angelangt war.
»Mir scheint, Mr. Daily, dass ich den Geist gesehen habe, der in der Aalmarsch und auf jenem Friedhof spukt. Eine Frau in Schwarz mit fast knöchernem Gesicht. Ich bin sicher, dass sie war, was man gemeinhin ein Gespenst nennt, dass sie kein lebender, atmender Mensch war. Nun, sie hat mir nichts getan.
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