Die Frau in Schwarz
her, nahm sich aber hin und wieder Zeit, im Straßengraben zu scharren oder einen Hasen über ein Stoppelfeld zu jagen. Im Gasthaus angekommen, ließ ich mir von der Wirtin den Korb erneut mit Essen füllen und besorgte weiteren Proviant beim Lebensmittelhändler. Mit beiden sowie mit Mr. Jerome, dem ich in einer Nebenstraße begegnete, wechselte ich ein paar gutgelaunte Worte, ohne die Sache in Eel Marsh House zu erwähnen. Das Tageslicht, so düster und feucht es auch war, hatte die Gespenster der Nacht wieder vertrieben und meinen Mut und meine Entschlossenheit zurückgebracht. Außerdem war ein Brief von Stella eingetroffen, voll von Zärtlichkeit und Worten des Bedauerns über meine Abwesenheit und voll Stolz über meine neue Verantwortung. Mit diesen herzerwärmenden Zeilen in meiner Brusttasche radelte ich vergnügt pfeifend zu den Marschen und dem Haus zurück.
Obwohl es noch nicht einmal Mittag war, musste ich die meisten Lampen im Haus einschalten, denn das Tageslicht war selbst am Fenster zu schwach, um dort zu arbeiten. Als ich hinausschaute, sah ich, dass Wolken und Regen dichter geworden waren und ich kaum noch das Ufer sehen konnte. Und kaum dass es Nachmittag wurde, war aus Regen und Wolken Nebel geworden. Da regten sich meine Nerven ein wenig, und ich überlegte, ob ich packen und in das gemütliche Gasthaus zurückkehren sollte. Ich ging zur Haustür und trat hinaus. Sofort legte sich die Feuchtigkeit wie ein Netz auf mein Gesicht und meine Kleidung. Stürmischer Wind war aufgekommen, der von der Flussmündung herbeipeitschte und mir mit seiner Kälte in die Knochen drang. Spider rannte ein paar Meter, dann blieb sie stehen und blickte zu mir zurück. Bei einem solchen Wetter war sie sichtlich nicht auf einen Spaziergang erpicht. Ich konnte nicht einmal die Ruine oder die zerfallene Friedhofsmauer sehen und erst recht nicht den Weg über den Damm, was allerdings nicht allein am Nebel lag, sondern auch an der Flut, die den Weg bereits völlig bedeckte. Bevor er wieder frei war, würde es spätnachts sein. Der Rückzug in die Geborgenheit von Crythin Gifford war mir verwehrt.
Ich pfiff nach Spider, die sofort freudig zu mir gelaufen kam, und kehrte zu Mrs. Drablows Papieren zurück. Bisher hatte ich lediglich ein dünnes Bündel möglicherweise ergiebiger Dokumente und Briefe gefunden, und ich beschloss, es nach dem Abendessen durchzusehen, vielleicht brachte es etwas Ablenkung. Bis dahin füllte sich die Kiste mit dem Abfall, und ich freute mich, dass bereits mehrere Schachteln und Schubläden leer waren. Allerdings, und das dämpfte meine Freude beträchtlich, gab es immer noch genügend, die der Durchsicht harrten.
Das erste Bündel Briefe, das mit einem schmalen lila Band zusammengehalten wurde, stammte der Schrift nach von nur einer Person und war zwischen Februar vor etwa sechzig Jahren und dem Sommer des darauffolgenden Jahres geschrieben worden. Die ersten waren vom Herrenhaus eines Ortes abgeschickt worden, an dessen Namen ich mich von der Karte erinnerte und der ungefähr dreißig Kilometer von Crythin Gifford entfernt lag; die späteren von einer schottischen Ortschaft in der Nähe von Edinburgh. Die Anrede aller lautete »Meine liebe Alice« oder »Liebste«, und die meisten waren lediglich mit »J.« unterschrieben, nur einige mit »Jennet«. Es waren kurze Briefe, auf direkte, etwas naive Art verfasst, und die Geschichte, die sie erzählten, war herzergreifend, aber nicht ungewöhnlich. Die Verfasserin, offenbar eine junge Verwandte von Mrs. Drablow, war eine ledige Mutter. Anfangs lebte sie noch zu Hause bei ihren Eltern, die sie jedoch weggeschickt hatten. Der Kindsvater wurde so gut wie nicht erwähnt, wenn man von den paar Hinweisen auf »P.« absieht: »P. wird nicht zurückkommen.« Und: »Ich glaube, man hat P. ins Ausland geschickt.« In Schottland kam ihr Sohn auf die Welt. Aus ihren Briefen sprach sofort eine verzweifelte, heftige Zuneigung zu ihm. Ein paar Monate lang gab es keine Briefe, doch als sie wieder einsetzten, war ihr Tenor erst der leidenschaftlicher Empörung und heftigen Protests, später der stiller, resignierter Bitterkeit. Offenbar wurde Druck auf sie ausgeübt, das Kind zur Adoption freizugeben. Sie weigerte sich, wiederholte immer wieder, dass sie sich nie von ihrem Sohn trennen würde. »Er gehört mir! Warum sollte ich nicht behalten, was mir gehört? Ich werde ihn keinen Fremden geben. Eher töte ich ihn und mich!« Dann änderte sich der Ton.
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