Die Frau in Schwarz
»Was könnte ich sonst tun? Ich bin völlig hilflos. Wenn Ihr, Du und M., ihn bekommen sollt, wird es mir nicht so viel ausmachen.« Und dann: »Ich nehme an, es muss sein.« Doch am Ende des letzten Briefes stand in kleiner, zittriger Schrift: »Liebe ihn. Nimm Dich seiner an, als wäre er Dein eigen Fleisch und Blut. Aber er ist mein! Nie kann er Dein sein. Oh, verzeih mir. Ich glaube, mein Herz bricht. J.«
Dem Bündel Briefe lag eine notarielle Urkunde bei, die besagte, dass der Säugling Nathaniel Pierston, Sohn von Jennet Humfrye, von Morgan Thomas Drablow, Eel Marsh House, Crythin Gifford, und seiner Ehefrau Alice adoptiert worden war. An die Urkunde waren drei Papiere geheftet. Das erste war ein Zeugnis von einer Lady M. in Hyde Park Gate für ein Kindermädchen namens Rose Judd.
Ich hatte es gerade gelesen und zur Seite gelegt, um das nächste zu öffnen, ein einzelnes, gefaltetes Blatt, als ich durch ein plötzliches Geräusch aufgeschreckt wurde. Schon war Spider an der Tür und knurrte wie letzte Nacht. Ich drehte mich um und sah, dass sie wieder das Fell gesträubt hatte. Einen Augenblick war ich zu erschrocken, um mich zu rühren. Da erinnerte ich mich an meinen Entschluss, die Geister von Eel Marsh House zu suchen und zu stellen, denn ich war sicher – oder vielmehr: war es bei Tageslicht gewesen –, dass die Dinge, wenn ich vor ihnen wegrannte, nur noch mehr Macht über mich gewinnen würden. So legte ich die Papiere zur Seite, stand auf und ging leise zur Tür des kleinen Salons, in dem ich gesessen hatte.
Sobald ich die Tür geöffnet hatte, schoss Spider aus dem Zimmer, als jage sie einen Hasen, und rannte, ununterbrochen knurrend, zur Treppe. Ich hörte sie den Gang im ersten Stock entlanglaufen und dann stehen bleiben. Sie war zu der verschlossenen Tür geeilt, und selbst hier im Erdgeschoss konnte ich, wenngleich schwach, das seltsame rhythmische Geräusch wieder hören – Rumm rumm. Pause. Rumm rumm. Pause. Rumm rumm. Rumm rumm.
Ich war fest entschlossen, die Tür aufzubrechen, egal wie. Ich musste herausfinden, wodurch dieses Geräusch verursacht wurde. Ich suchte in der Küche und der Speisekammer nach einem schweren Hammer, einem Meißel oder sonst einem geeigneten Werkzeug, fand jedoch nichts dergleichen. Da erinnerte ich mich, dass ich im Nebenhaus bei den Holz- und Kohlevorräten eine Axt gesehen hatte. Ich öffnete die Hintertür und trat mit der Taschenlampe in der Hand hinaus. Es war immer noch nebelig und nieselte, aber nicht vergleichbar mit dem dichten, wogenden Nebel jenes Abends, als ich den Damm zu überqueren versucht hatte. Dafür war es stockdunkel, weder Mond noch Sterne waren zu sehen, und trotz des Taschenlampenstrahls sah ich kaum den Weg zum Schuppen.
Als ich die Axt gefunden hatte und zurück zum Haus ging, hörte ich das Geräusch, und es klang, als käme es aus unmittelbarer Nähe des Hauses. Ich drehte mich um und ging rasch um das Haus herum zur Vorderseite, weil ich dachte, ich bekäme Besuch. Als ich den Kies erreichte, leuchtete ich in die Dunkelheit in Richtung des Damms, denn von dort drang das Klappern von Hufen und das Rattern und Knarren des Wagens zu mir herüber. Aber ich sah nichts. Als ich endlich begriff, was direkt vor meinen Augen geschah, schrie ich auf. Ich bekam keinen Besuch – jedenfalls keinen echten, lebendigen – nicht Keckwick. Das Geräusch kam nun aus einer anderen Richtung, als der Pferdewagen vom Damm abkam und über die offene Marsch rollte. Ich starrte in die neblige Düsternis, und Angst überkam mich. Ich versuchte verzweifelt, einen Unterschied zwischen diesem Geräusch und dem eines echten Pferdewagens zu erkennen. Doch es gab keinen. Ich war überzeugt, wenn ich dorthin hätte laufen, den Weg vor den Füßen hätte sehen können, hätte ich ihn auch erreichen und den Kutscher zurückhalten können. Doch ich tat nichts anderes, als starr und steif vor Angst stehen zu bleiben, während ich innerlich aufgewühlt war und sich meine Phantasie überschlug.
Da erst bemerkte ich, dass die Hündin mir gefolgt war und mit zurückgelegten Ohren völlig erstarrt auf die Marsch hinausblickte. Der Pferdewagen entfernte sich immer weiter. Hufschlag und Räderrollen waren nur noch gedämpft zu hören, dafür plötzlich ein Platschen und Wiehern und das panische Umsichschlagen des Pferdes. Es wiederholte sich. Der Schwemmsand hatte den Wagen erfasst und sog ihn tiefer. Und dann kam dieser schreckliche Augenblick, als das Wasser
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