Die Frau in Schwarz
stieg und gurgelte. Und über dem Herumschlagen und schrillen Wiehern des Pferdes das Schreien des Kindes, das in schrecklicher Angst anschwoll und schließlich gurgelnd verstummte. Dann vollkommene Stille. Nur die schwache Brandung in weiter Ferne. Ich zitterte am ganzen Körper, mein Mund war trocken, meine Handflächen schmerzten, wo ich die Fingernägel in die Haut gegraben hatte, während sich die ganze schreckliche Abfolge von Geräuschen wiederholte, wie sie es später in meinem Kopf tausendmal wieder tun würde.
Dass der Pferdewagen und das schreiende Kind nicht real waren, daran zweifelte ich nicht. Und dass ihre letzte Fahrt über die Marschen und ihr Verschwinden im tückischen Schwemmsand nicht einfach hundert Meter von mir entfernt in der Dunkelheit stattgefunden hatte, dessen war ich mir nun auch sicher. Aber ebenso sicher war ich mir, dass dieses schreckliche Ereignis sich tatsächlich einst – wer weiß, vor wie langer Zeit – hier in der Aalmarsch zugetragen hatte.
Ein Pferdewagen mit Kutscher und zumindest einem Kind als Fahrgast war innerhalb von Augenblicken unter Wasser gezogen und überflutet worden. Allein der Gedanke, ganz zu schweigen von der gespenstischen Wiederholung des Ereignisses, nahm mich mehr mit, als ich ertragen konnte. Ich zitterte, frierend vom Nebel, dem Nachtwind und dem Schweiß, der auf meinem ganzen Körper eiskalt wurde.
Und dann, mit gesträubtem Fell und verstörten Augen, machte Spider ein paar Schritte rückwärts, hob ihre Vorderpfoten fast vom Boden und fing zu heulen an. Es war ein lautes, gequältes und herzzerreißendes Geheul. Ich musste sie schließlich auf den Arm nehmen und ins Haus tragen, weil sie auf keinen meiner Rufe reagierte. Ihr Körper war steif in meinen Armen, und sie war ohne Zweifel gelähmt vor Panik. Als ich sie auf dem Boden absetzte, wich sie mir nicht von der Seite.
Auf seltsame Weise ermahnte mich gerade ihre Angst, Fassung zu bewahren – ähnlich einer Mutter, die sich tapfer irgendwelchen Gefahren stellen muss, um ihr verängstigtes Kind zu beruhigen. Spider war nur ein Hund, trotzdem fühlte ich mich verpflichtet, sie zu beruhigen und zu trösten, und indem ich es tat, beruhigte ich mich selbst und sammelte innere Kraft. Doch nachdem sie ein paar Minuten zugelassen hatte, dass ich sie streichelte und tätschelte, entzog sie sich mir und rannte wieder wachsam und knurrend zur Treppe. Ich folgte ihr rasch und schaltete jedes Licht auf unserem Weg ein. Wie erwartet tappte sie zu dem Gang mit der verschlossenen Tür am Ende, und ich konnte wieder das Geräusch hören, dieses aufreibend vertraute Rumm rumm, das mich wahnsinnig machte, weil ich es nicht deuten konnte.
Als ich um die Ecke lief, atmete ich heftig, und mein Herz hatte wieder schmerzhaft zu rasen begonnen. Die Angst, die ich bis jetzt vor den Geschehnissen in diesem Haus gehabt hatte, erreichte einen neuen, schier unerträglichen Höhepunkt, als ich das Ende des kurzen Korridors erreichte. Ich blickte um die Ecke und dachte, ich würde sterben, ja, ich starb, denn ich konnte mir nicht vorstellen, dass ein Mensch einen solchen Schock überleben oder gar bei klarem Verstand bleiben konnte.
Die Tür des Zimmers, aus dem das Geräusch kam, die Tür, die ohne jeglichen Zweifel fest verschlossen gewesen war, so fest, dass ich sie nicht hatte aufbrechen können, die Tür, zu der es keinen Schlüssel geben konnte – stand nun offen. Sperrangelweit. Das Zimmer war stockdunkel, vom ersten Meter abgesehen, wo schwaches Licht aus dem Gang auf glänzend braunen Bodenbelag fiel. Ich hörte das Geräusch, das aus dem Innern zu mir drang – lauter, nun, da die Tür offen stand –, sowie Spider, die schnüffelnd herumtappte.
Ich weiß nicht, wie lange ich so dastand und vor Panik und Verwirrung zitterte. Ich verlor jegliches Gefühl für Zeit und Realität. In meinem Kopf kreiste ein wirres Durcheinander von Gedankenfetzen und Gefühlen, Vorstellungen von Geistern, von Einbrechern aus Fleisch und Blut, von Mord und Gewalttätigkeit. Alle denkbaren Ängste quälten mich. Und die ganze Zeit, während die Tür offen stand, ging das Schaukeln weiter. Schaukeln! Richtig! Ich kam zu mir, weil mir endlich klargeworden war, worum es sich bei diesem Geräusch im Zimmer handelte – oder zumindest, woran es mich erinnerte. Es war das Geräusch der hölzernen Kufen des Schaukelstuhls meiner Amme, die, als ich noch ein sehr kleines Kind war, neben meinem Bettchen gesessen und geschaukelt
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