Die Frau meines Lebens
mußt du wohl mit dem alten
Nathan vorlieb nehmen, der die Weisheit auch nicht immer gepachtet hat.«
Die Rue
Mabillon, in der ich wohne, war nicht weit entfernt, von daher hielt sich
Nathans Opfer in Grenzen. Trotzdem fand ich es nett, daß er mich begleitete. Es
hatte wieder angefangen zu regnen, ein Wind fegte durch die Straßen, es wurde
ziemlich ungemütlich, und wir hatten beide keinen Schirm dabei. Die Lichter des
Boulevards spiegelten sich auf den nassen Pflastersteinen. Autos fuhren vorbei,
Wasser spritzte auf. Es war das typische Aprilsauwetter, aber es paßte, und ich
fand es auf eine merkwürdige Weise fast schön, so durch den Regen zu
marschieren.
Schweigend
gingen wir nebeneinander her. An einer Litfaßsäule zerrte der Wind an einem
regenfeuchten Plakat. Die eine Ecke hatte sich gelöst und schlug vor und
zurück. Werbung für ein Konzert, ein Mann mit einer Geige, das Datum von
letzter Woche. Alles war vergänglich. Es war Viertel vor elf, und der Tag
neigte sich seinem Ende zu.
Eine Minute
später stand ich wieder vor der Litfaßsäule.
Ich war
daran vorbeigelaufen, wie man an einer Person vorbeiläuft, die man kennt und
die man nicht bemerkt, weil man in Gedanken ist. Dreißig Sekunden hatte es
gedauert, bis die Bilder in meinem Bewußtsein angekommen waren. Dann blieb ich
so abrupt stehen, daß Nathan unsanft gegen mich prallte.
»He,
Antoine! Paß doch auf!« rief er. »Was machst du denn?!«
Ich
antwortete nicht. Ich lief zurück und verharrte vor der Litfaßsäule wie
Schliemann vor dem Schatz des Priamus.
»Das gibt's
doch nicht das gibt's einfach nicht«, murmelte ich entgeistert. Der Regen wehte
mir ins Gesicht, aber ich spürte es nicht.
Nathan war
inzwischen wieder an meiner Seite. Er konnte die Faszination, welche die Säule
auf mich ausübte, offensichtlich nicht teilen. Verständnislos schaute er auf
die regennassen Plakate, dann wieder auf mich, dann wieder auf die Plakate. Er
berührte mich vorsichtig am Ärmel. Ich reagierte nicht. Wahrscheinlich hielt er
mich für betrunken. Ein Betrunkener mit autistischen Zügen.
»Antoine?
Geht's dir gut, Antoine?« Seine Stimme klang angespannt.
Ich nickte
und starrte weiter auf das Plakat. Mir ging es gut. Um nicht zu sagen sehr gut.
»Sprich mit
mir! Was ist los, verdammt noch mal?« Er schüttelte mich. »Antoine!« schrie er
in mein Ohr. »Hörst du mich, Antoine? Sag was!«
»Snape«, sagte
ich.
13
Nie
wieder werde ich mich über schlechtes Wetter beschweren, das schwöre ich! Bei
Sonnenschein, da bin ich mir absolut sicher, wäre ich an der Litfaßsäule
vorbeispaziert, ohne das geringste zu bemerken. Ich wäre daran vorbeigegangen,
und damit wäre diese Geschichte zu Ende gewesen.
Vielleicht
hätte ich in den nächsten Wochen noch jeden Tag voller Sehnsucht an Isabelle
gedacht, in den nächsten Monaten gelegentlich, und dann, als alter Mann, hätte
ich vielleicht ganz plötzlich noch einmal das Bild der schönen Frau aus dem Café
de Flore vor mir gesehen, weil eine der hübschen, jungen Pflegerinnen im
Altenheim an einem regnerischen Tag im Frühling ihren roten Regenschirm
aufgespannt hätte, bevor sie nach Hause eilte.
Ich hätte
mich erinnert an jenen aufregenden Tag im April, als ich die Frau meines Lebens
fand und wieder verlor, und die Erinnerung wäre mir dennoch näher gewesen als
das, was gerade um mich herum passiert wäre, als die Menschen, die kamen und
gingen und von denen ich die Namen und das, was sie mir erzählten, oft genug
vergaß.
Letztlich
sind es immer nur die Erinnerungen, die bleiben. Doch den Erinnerungen an das,
was niemals stattfinden konnte, haftet unweigerlich etwas von der leisen Wehmut
unerfüllter Wünsche an. Als hätte das Leben seine Versprechen nicht eingelöst.
So aber
hatte der Regen einen Zipfel des Plakats gelöst, der Wind hatte ungeduldig
daran herumgezerrt, und durch die Bewegung war mein Blick genau auf die Stelle
gelenkt worden, wo die Geschichte weiter ging. Auf das Gesicht des Mannes, den
ich Snape nannte. Der Mann, der mit Isabelle im Café gewesen war.
Er hielt
eine Geige in der Hand und sah mich aus seinen dunklen Augen an.
»Ich fasse
es nicht, das ist Snape«, sagte ich noch einmal.
»Wer ist
Snape?« fragte Nathan mißtrauisch.
»Na, der
Mann aus dem Flore. Das ist er!« entgegnete ich ungeduldig.
»Wieso
Mann? Ich dachte, du suchst eine Frau.« Nathan kam nicht mehr mit.
»Mensch,
kapierst du nicht – das ist der Typ, mit dem Isabelle in dem Café zusammen
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