Die Frau mit dem Muttermal - Roman
schon verstehen. Wenn Sie seine Kollegen fragen, wird es Ihnen bestimmt klarwerden. Oder seine Freunde, falls er welche hat …«
»Das werden wir natürlich tun«, sagte Münster.
Er schaute sich in der modern eingerichteten Küche um. Es gab kaum Spuren davon, dass vier Menschen hier vor kurzem gefrühstückt haben mussten. Alles eine Sache der Organisation und Routine, nahm er an.
Warum bin ich so aggressiv? – wunderte er sich etwas überrascht über sich selbst. Was ist los mit mir?
Schließlich hatte er es noch geschafft, mit Synn zu schlafen, zu duschen und zu frühstücken, bevor er ging. Also sollte es keine Empfindlichkeiten in ihm geben. So gefährlich war sie doch wohl nicht?
»Was halten Sie davon?«, fragte er.
»Vom Mord?«
»Ja.«
Sie lehnte sich zurück und schaute aus dem Fenster.
»Ich weiß nicht«, sagte sie und erschien zum ersten Mal etwas unsicher. »Natürlich gibt es viele, die Rickard nicht mögen, aber dass jemand ihn erschießen würde … nein, das hätte ich nicht gedacht.«
»Warum mochten ihn die Leute nicht?«
Sie überlegte eine Weile und suchte nach den richtigen Worten. »Er hat immer nur sich selbst gesehen«, sagte sie. »Verächtlich allem und allen gegenüber, die ihm nicht gefielen. Oder nicht in seine Art zu denken passten …«
»Wie war die?«
»Entschuldigung?«
»Seine Art zu denken.«
Sie zögerte wieder kurz.
»Ich glaube, das lag in seiner Kindheit begründet«, erklärte sie. »Er war seit seinem zehnten Lebensjahr Einzelkind … er hatte einen älteren Bruder, der mit vierzehn ertrunken ist.
Danach förderten die Eltern Rickard, wo sie nur konnten, aber sie waren seinen Fehlern und Mängeln gegenüber vollkommen blind.«
»Warum haben Sie ihn geheiratet?« Münster war sich nicht sicher, ob diese Frage vielleicht zu aufdringlich war.
Aber stattdessen lachte sie daraufhin zum ersten Mal.
»Der weibliche Defekt«, sagte sie. »Er war nett, und ich war jung.« Sie trank von ihrem Kaffee und blieb ein paar Sekunden mit der Tasse in der Hand sitzen.
»Er lief nahezu über vor männlichen Attributen«, sagte sie dann. »Zu Anfang ist das herrlich. Ab vierzig sollte es verboten sein. Wenn Sie entschuldigen?«
»Aber gewiss doch«, sagte Münster. »Ich bin dreiundvierzig. Aber darüber wollten wir nicht reden. Sie haben also keinerlei Verdacht?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Er hat nie etwas angedeutet?«
»Nein. Aber wir haben nur wenig miteinander geredet, wie gesagt. Vielleicht ein Telefongespräch in der Woche. Er hat sein Leben gelebt.«
»Was wollte denn Ihre Tochter dort? Ich meine, als sie ihn gefunden hat.«
»Ein paar Bücher holen. Sie war diejenige, die am meisten Kontakt zu ihm hatte. Ich glaube, die beiden konnten miteinander reden, und ihre Schule liegt nur zwei Häuser von der Weijskerstraat entfernt. Sie ist manchmal hingegangen, um zu pauken. In Freistunden und so.«
»Sie hatte einen Schlüssel?«
Wanda Piirinen nickte.
»Ja. Für sie ist es zweifellos am schlimmsten. Das wird seine Zeit brauchen … schrecklich, dass ausgerechnet sie ihn finden musste.« Sie biss sich auf die Lippen.
»Ich hoffe, Sie behandeln sie behutsam, wenn Sie sie noch mal befragen wollen. Sie hat letzte Nacht nicht besonders viel geschlafen.«
Münster nickte.
»Wir haben gestern schon eine Weile mit ihr gesprochen. Ein kluges Mädchen.«
Plötzlich hatte Wanda Piirinen Tränen in den Augen, und ihm war klar, dass er sie doch falsch eingeschätzt hatte. Außerdem merkte er, dass es an der Zeit war, sich zurückzuziehen.
»Nur noch eins«, sagte er. »Ryszard Malik, kennen Sie den Namen?«
»Das ist derjenige, der letztes Mal erschossen wurde, nicht wahr?«
»Ja.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Nein«, sagte sie. »Ich habe nie von ihm gehört, das kann ich Ihnen versichern.«
»Ja gut, dann erst mal vielen Dank«, sagte Münster und stand auf. »Ich hoffe, wir hören von Ihnen, falls Ihnen irgendetwas einfällt, von dem Sie glauben, es könnte für uns von Bedeutung sein.«
»Natürlich.«
Sie brachte ihn hinaus. Stand aus irgendeinem Grund noch in der Tür, als er in sein Auto gestiegen war. Während er den Motor startete, hob sie die Hand in einer Art unsicherem Abschiedsgruß und verschwand dann im Haus.
Das war’s also, dachte Münster. Noch ein Einblick in noch ein Leben. Und plötzlich, während er durch die ausgestorbenen Vorortstraßen fuhr, spürte er, wie etwas Dunkles, Finsteres ihn packte.
»Verflucht noch mal«,
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