Die Frau mit dem Muttermal - Roman
blutroten Digitalziffern auf seinem Radiowecker
zeigten 02.21, und er musste feststellen, dass er weniger als fünf Stunden Schlaf vor sich hatte.
Nun ja, er hatte schon Schlimmeres erlebt, und vermutlich würde es auch noch schlimmer kommen.
Als Kriminalkommissar Reinhart in seinem großen Messingbett unter die Decke gekrochen war, hatte die Nacht bereits zwanzig rote Minuten weggetickt, aber dennoch überlegte er, ob er nicht Winnifred anrufen sollte, um sie zu fragen, ob sie Lust hätte herüberzukommen.
Oder um zumindest ein paar Worte zu wechseln und sie daran zu erinnern, dass er sie liebte. Doch etwas – was nach seiner festen Überzeugung sicher mit seinem guten Charakter und seiner Erziehung zu tun hatte – hielt ihn zurück, und stattdessen blieb er eine Weile nur liegen und dachte über die Befragung der Nachbarn nach. Wie wenig Gewissen die Leute doch hatten.
Oder war es vermutlich nur Dummheit?
Mangelnde Aufmerksamkeit in allen Bereichen. In dem alten, gut erhaltenen Dreißigerjahregebäude in der Weijskerstraat, in der der ermordete Rickard Maasleitner seine Wohnung gehabt hatte, wohnten insgesamt nicht weniger als 73 Personen. In dem betreffenden Treppenaufgang – 26B – waren außer dem Opfer selbst siebzehn Mieter zum Zeitpunkt des Mordes zu Hause gewesen. Mindestens acht von ihnen waren noch wach, als der Mörder seine Schüsse abfeuerte. Fünf hatten sich im selben Stockwerk befunden. Einer war zehn vor zwölf nach Hause gekommen. Keiner hatte auch nur das Geringste bemerkt.
Was das Schloss der Haustür betraf, das der Mörder außer Betrieb gesetzt hatte, indem er ein flaches Metallstückchen zwischen Riegel und Zylinder geschoben hatte, so hatten mindestens drei Personen festgestellt, dass etwas nicht stimmte, aber keiner von ihnen hatte irgendwelche Schlussfolgerungen daraus gezogen.
Verfluchte Dummköpfe!, dachte Reinhart.
Gleichzeitig wusste er natürlich, dass das kein besonders gerechtes Urteil war. Was ihn selbst betraf, so hatte er nicht die geringste Ahnung, was seine Nachbarn des Abends trieben – er wusste kaum, wie sie hießen –, aber nach sieben Stunden Befragungen und bei so vielen mutmaßlichen Zeugen konnte man wohl das Recht haben, ein etwas besseres Ergebnis zu erwarten.
Oder, genauer gesagt, überhaupt ein Ergebnis.
Aber so war es nun mal nicht.
Was hingegen ziemlich klar war, war das Zeitschema selbst. Die Haustür der Weijskerstraat 26 fiel jeden Abend um 22 Uhr automatisch ins Schloss. Um das Schloss in der Form zu sabotieren, wie der Mörder es gemacht hatte, musste er (oder sie, wie Winnifred Lynch behauptete) bis zu diesem Zeitpunkt gewartet haben, vermutlich irgendwo in dem Gebäude … um sodann, nachdem der Mechanismus in Funktion getreten war, in aller Ruhe die Tür öffnen zu können und das kleine Metallteil hineinzuschieben. Die Alternative war, dass der Mörder irgendwo in den Büschen beim Eingang versteckt gewesen war und den Moment abgepasst hatte, wenn einer der Mieter hinein- oder hinausging. Eine ziemlich schwierige und deshalb nicht besonders wahrscheinliche Methode, darin waren deBries und Reinhart sich einig gewesen.
Womit sich der Mörder in der Zwischenzeit beschäftigt hatte, das war natürlich unmöglich zu sagen, aber als Maasleitner gegen zwölf von seinem Kneipenbesuch mit seinem Kollegen Faringer nach Hause kam, hatte er (sie) offensichtlich nicht besonders lange abgewartet. Allen Anzeichen nach war Maasleitner erst wenige Minuten vorher nach Hause gekommen, als es an der Tür klingelte.
Und dann also vier Schüsse. Zwei in die Brust, zwei in den Unterleib. Exakt wie beim letzten Mal. Tür zu und Abgang. Und keine Zeugen.
Scheiße, dachte Reinhart und erschauerte. Das war so einfach, dass man sich im Dunkeln fürchten konnte.
Trotzdem streckte er seinen Arm aus und löschte das Licht. Erinnerte sich gleichzeitig daran, dass es dennoch ein paar Strohhalme gab, an die sie sich klammern konnten. Zwei der Mieter in dem betreffenden Aufgang waren am Mordabend zu Hause gewesen, waren aber während der Befragungen nicht angetroffen worden. Einer von ihnen war ein Herr Malgre, der Wand an Wand mit Maasleitner wohnte, und in Ermangelung anderer Möglichkeiten beschloss Reinhart, seine größten Erwartungen an die am kommenden Morgen bevorstehende Befragung gerade dieses Herrn zu knüpfen. Sie war für zwölf Uhr angesetzt, wenn Malgre von einer Konferenz in Aarlach zurück sein sollte, und es war deBries, dem er zugeteilt
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