Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Frau mit dem Muttermal - Roman

Die Frau mit dem Muttermal - Roman

Titel: Die Frau mit dem Muttermal - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H kan Nesser
Vom Netzwerk:
freien Platz. Aber er war es, den sie mit ihrem Blick suchte, und als sie ihn entdeckt hatte – was erst gut eine Minute, nachdem er sie schon gesehen hatte, geschah  –, blieb sie stehen.
    Stand einfach nur da. Schmunzelte vor sich hin, wie es schien, und ließ ihren Blick weiter durch das Lokal schweifen. Ließ ihn ab und zu auf ihm ruhen … für eine Sekunde oder zwei, und wie lange das eigentlich so ging, das konnte er hinterher schwer sagen. Wahrscheinlich hatte es sich nur um ein paar Minuten gehandelt, aber der kurze Zeitraum zog sich für ihn dahin und erschien ihm hinterher länger als die Mittagspause selbst. Worüber er sich mit Henessy und Vargas unterhalten hatte, davon hatte er nicht den geringsten Schimmer.

    Falls es noch irgendwelche Zweifel gab, so wurden sie durch die Ereignisse am Dienstagmorgen ausgeräumt.
    Es war gegen halb elf, dass er sich zum Postamt am Lindenplejn aufgemacht hatte, um ein Paket abzuholen – und um ein paar Offerten aufzugeben für potenzielle Kunden in Oostwerdingen und Aarlach. Frau Kennan lag seit einer Woche mit einer Grippe im Bett, und es gab Dinge, die man nicht länger aufschieben konnte.
    Er konnte nicht sagen, wann sie hereingekommen war, es standen ziemlich viele Leute in der Schlange vor den Schaltern, aber mit einem Mal spürte er ihre Anwesenheit – irgendwo hinter sich, wie bei dem Fußballspiel.
    Vorsichtig drehte er den Kopf nach hinten und entdeckte sie sofort. In der Schlange neben seiner. Ein paar Meter hinter seinem Rücken, der Abstand konnte nicht mehr als drei, vier Meter betragen. Sie trug wieder den Schal und die Brille, aber statt des Mantels eine braune Jacke. Stand da, ohne ihn anzusehen  – zumindest nicht während der Sekunde, die er wagte, sie anzuschauen. Ein leichtes Lächeln spielte um ihren Mund, das er fast wie ein heimliches Signal empfand.
    Nachdem er einen Augenblick mit sich selbst gerungen hatte, verließ Biedersen seinen Platz in der Schlange. Ging schnell aus dem Haus, überquerte die Straße und betrat einen Zeitungskiosk auf der anderen Seite. Dort hielt er sich einige Minuten auf, während der er mechanisch mit gesenktem Kopf irgendwelche Pferdezeitungen durchblätterte, woraufhin er wieder zum Postamt ging.
    Sie war nicht mehr dort. Die Schlange, in der sie gestanden hatte, war ansonsten unverändert. Die schwarze Lederjacke vor ihr stand noch da. Die junge Einwandererfrau hinter ihr ebenso. Die Lücke zwischen ihnen war geschlossen.
    Biedersen zögerte einige Sekunden. Dann beschloss er, seine Besorgungen zu verschieben, und ging stattdessen zurück ins Büro.

    Er drehte den Schlüssel zweimal herum und ließ sich hinter seinen Schreibtisch fallen. Dann holte er seinen Notizblock und einen Stift hervor und kritzelte mehr oder weniger symmetrische Figuren darauf – eine Gewohnheit, die er sich bereits während der Schulzeit zugelegt hatte und der er gern nachgab, wenn er über ein Problem nachdachte.
    Und während er dort saß, Seite um Seite füllte und abriss, fragte er sich, ob er jemals ein größeres Problem gehabt hätte. Die Einsicht, dass diese Frau ihn wirklich verfolgte – und das musste sie wohl –, bedeutete ja noch in keiner Weise, dass das Ergebnis damit klar war. Dass er sie entdeckt hatte, hieß doch nur, dass er eine Chance bekommen hatte; eine Trumpfkarte, die es nicht zu verschenken galt. Jetzt durfte er sich ihr gegenüber auf keinen Fall verraten. Ihr nicht zu erkennen geben, dass er wusste, wer sie war und worum es ging. Das war selbstverständlich.
    Dass er sie töten musste, war die zweite Erkenntnis, die ihm kam. Das Unausweichliche dieses Beschlusses wurde ihm um so deutlicher, je länger er darüber nachdachte – als hätte er es nicht schon die ganze Zeit gewusst. Er rief Innings an, bekam aber keine Antwort. Vielleicht war das nur gut so. Er hätte gar nicht gewusst, was er ihm sagen sollte, was er zu tun gedachte.
    Besser erst mal auf eigene Faust weitermachen, beschloss er. Jedenfalls den nächsten oder die nächsten beiden Schritte. Aber nichts übereilen, das Ganze war dafür viel zu heikel. Er musste vor allem einen kühlen Kopf bewahren. Dass er gezwungen war, sie zu töten, bevor sie ihn tötete, bedeutete natürlich nicht, sie einfach so abzuknallen. Auf offener Straße. Bald wurde ihm klar, dass es eigentlich nur zwei akzeptable Varianten gab: Entweder machte er es in Notwehr – wartete bis zur letzten Sekunde sozusagen, mit allem, was das an Risiken und

Weitere Kostenlose Bücher