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Die Frau mit dem roten Herzen

Die Frau mit dem roten Herzen

Titel: Die Frau mit dem roten Herzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Qiu Xiaolong
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Schönheit fasziniert, hatte jedoch nie gewagt, sich ihr zu nähern. Als Sohn einer »Schwarzen Familie« war er einer Rotgardistin nicht würdig. Das Wen auch Kader der Roten Garden war, vergrößerte den Abstand zwischen ihnen noch. Wen sang mit der Klasse Revolutionslieder, ließ sie politische Slogans skandieren und die Worte des Vorsitzenden Mao studieren, das einzige Schulbuch, das damals erlaubt war. Daher sah er in ihr eine Art aufsteigende Sonne, die er aus der Ferne verehrte.
    In jenem Jahr war sein Vater wegen einer Augenoperation ins Krankenhaus gekommen. Selbst auf den Stationen schwärmten die Roten Garden oder Roten Rebellen umher wie zornige Wespen. Man zwang seinen Vater, aufzustehen und mit verbundenen Augen vor dem Bild Maos Selbstkritik zu üben. Das war eine Unmöglichkeit für einen Kranken, der weder stehen noch sehen konnte. Also mußte Liu ihm helfen, indem er zunächst eine Selbstkritik für ihn schrieb. Keine leichte Aufgabe für einen Dreizehnjährigen. Nachdem er sich eine Stunde lang den Kopf zerbrochen hatte, standen lediglich zwei oder drei Zeilen auf dem Papier. In seiner Verzweiflung rannte er mit Papier und Füller auf die Straße hinaus, wo er zufällig Wen Liping und ihrem Vater begegnete. Sie begrüßte ihn lächelnd, und ihre Fingerspitzen berührten den Füllhalter. Die goldene Kappe des Füllers begann im Sonnenlicht zu leuchten. Er kehrte nach Hause zurück und beendete die Rede mit dem einzigen funkelnden Schatz, den er auf dieser Welt besaß. Danach ging er ins Krankenhaus, stützte seinen Vater und las, ungerührt von der Erniedrigung, wie ein Roboter die Selbstkritik vor. Dieser Tag vereinte für ihn den hellsten und den dunkelsten Moment.
    Die drei Jahre Oberschule verflossen wie Wasser und mündeten in eine Flut, die sich Landverschickung nannte. Er landete mit einer Gruppe seiner Klassenkameraden in der Provinz Heilongjiang. Sie ging allein nach Fujian. Es war am Tag ihrer Abfahrt vom Shanghaier Bahnhof, als er das Wunder seines Lebens erlebte, indem er mit ihr zusammen das rote Papierherz mit dem Schriftzeichen »loyal« hielt. Wens Finger hielten nicht nur das rote Pappeherz empor, sondern hoben auch ihn aus dem verachteten Status eines »Schwarzen Welpen«, so daß er ihr endlich auf Augenhöhe gegenüberstand.
    Das Leben in Heilongjiang war hart. Doch die Erinnerung an den Loyalitätstanz bedeutete für ihn ein unfehlbares Licht am Ende des endlos scheinenden Tunnels. Als er von ihrer Heirat erfuhr, war er am Boden zerstört. Ironischerweise brachte ausgerechnet das ihn dazu, erstmals über seine eigene Zukunft nachzudenken, eine Zukunft, in der er in der Lage sein wollte, sie zu unterstützen. Daraufhin begann er, mit wilder Entschlossenheit zu lernen.
    Wie viele andere kehrte auch Liu 1978 nach Shanghai zurück. Dank der Selbststudien, die er in Heilongjiang betrieben hatte, bestand er die Aufnahmeprüfung und konnte sich noch im selben Jahr an der Pädagogischen Hochschule Ostchina immatrikulieren. Neben seinen intensiven Studien forschte er nach ihr, doch sie schien wie vom Erdboden verschluckt. Keiner wußte etwas über sie. Während seiner vier Studienjahre kam sie kein einziges Mal nach Shanghai zurück. Nach dem Abschluß bekam er eine Stelle als Reporter bei der Wenhui-Zeitung. Er war für die Berichterstattung über die Shanghaier Industrie zuständig und schrieb nebenher Gedichte. Eines Tages erfuhr er, daß seine Zeitung einen Sonderbericht über eine kommuneeigene Fabrik in Fujian machen wollte. Er bekundete Interesse an der Aufgabe und wurde losgeschickt. Er kannte den Namen des Dorfes nicht, in dem Wen lebte, und eigentlich hatte er auch nicht vor, nach ihr zu suchen. Der Gedanke, in ihrer Nähe zu sein, genügte ihm. Doch es gibt keine Geschichten ohne Zufälle. Als er die Werkshalle ihrer Fabrik betrat, war er schockiert.
    Nach der Besichtigung führte er ein langes Gespräch mit dem Fabrikleiter. Dieser mußte etwas bemerkt haben, denn er erzählte ihm, wie krankhaft eifersüchtig und gewalttätig Feng sei. In jener Nacht dachte er lange nach. Nach all den Jahren verspürte er noch immer dieselbe unstillbare Leidenschaft für sie. In seinem Kopf schien eine drängende Stimme zu sagen: Erklär ihr alles. Es ist noch nicht zu spät.
    Doch am folgenden Morgen erwachte er in der Realität und verließ eilends das Dorf. Er war ein erfolgreicher Reporter, der Gedichtbände veröffentlichte und jüngere Freundinnen hatte. Sich ausgerechnet eine

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