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Die Frau mit dem roten Herzen

Die Frau mit dem roten Herzen

Titel: Die Frau mit dem roten Herzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Qiu Xiaolong
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gehalten. Nun gebe ich Ihnen mein Wort, als Dichter und als Polizeibeamter. Ich werde weder Sie noch Wen zu irgend etwas zwingen. Lassen Sie uns miteinander reden. Dann können Sie besser beurteilen, ob Wen ihre Optionen mit mir diskutieren sollte oder nicht.«
    »Aber Oberinspektor Chen«, protestierte Catheri ne.
    »Hat sie sich denn nicht klar genug ausgedrückt?« entgegnete Liu. »Wozu noch Zeit verschwenden?«
    »Wen sollte ihre eigene Entscheidung treffen, aber das kann sie nur, wenn sie die Lage wirklich überblickt. Andernfalls werden Sie beide diese Entscheidung womöglich bereuen. In dieser Angelegenheit gibt es ernstzunehmende Faktoren, die Sie nicht kennen. Sie wollen doch nicht, daß Wen sich in Gefahr begibt.«
    »Dann reden Sie mit ihr«, sagte Liu.
    »Meinen Sie denn, daß sie mich anhören wird?« fragte Chen. »Ich glaube, Sie sind der einzige, dem sie vertraut.«
    »Und Sie werden Ihr Wort halten, Oberinspektor Chen?«
    »Ja, ich werde einen Bericht für das Präsidium schreiben und Wens Entscheidung darlegen, wie immer sie ausfallen wird.«
    Catherine konnte sich keinen Reim auf diese Vorgehensweise machen. Die chinesischen Behörden waren nie besonders eifrig gewesen. Jetzt hatten sie Wen gefunden, aber Chen schien nicht daran gelegen, sie zur Ausreise zu bewegen. Warum war er dann überhaupt mit ihr hierhergekommen?
    »Na gut, unterhalten wir uns in meinem Arbeitszimmer«, sagte Liu zu Chen. Dann wandte er sich an Wen Liping. »Mach dir keine Sorgen. Iß mit der Amerikanerin zu Mittag. Keiner wird dich zu etwas zwingen.«
     

29
     
    Lius B ÜRO war um einiges größer als das von Chen im Shanghaier Polizeipräsidium. Und bei weitem luxuriöser eingerichtet: ein riesiger U-förmiger Stahlrohrtisch, ein drehbarer Schreibtischstuhl aus Leder und mehrere Ledersessel, dazu Regale voll gebundener Bücher. Auf dem Schreibtisch stand ein kleiner Computerturm mit Laserdrucker. Liu setzte sich in einen Sessel und bot Chen einen anderen an.
    Auf den Regalbrettern bemerkte Chen mehrere vergoldete Buddha-Statuetten. Jede von ihnen war in eine farbige Seidenrobe gehüllt. Das erinnerte ihn an eine Szene, die er zusammen mit seiner Mutter in einem efeuüberwachsenen Tempel in Hangzhou erlebt hatte. Eine vergoldete Gipsstatue Buddhas thronte hoch auf einer Mauer, während Pilger in Lumpen vor ihr knieten und ihr goldene und silberne Seidengewänder darbrachten. Diese Zeremonie nannte man die »Einkleidung Buddhas«, hatte ihm seine Mutter erklärt, und je teurer die dargebrachten Gewänder, desto devoter der Pilger. Buddha würde den Gaben gemäß seine Wunder vollbringen. Er hatte es seiner Mutter nachgetan und Räucherstäbchen angezündet, wobei er sich auf drei Wünsche konzentrierte. Was diese Wünsche gewesen waren, hatte er längst vergessen, nicht aber die Verwirrung, die er dabei empfunden hatte.
    Glaube daran, und alles wird möglich. Oberinspektor Chen konnte nicht ahnen, ob Liu an die Kraft dieser Figürchen glaubte oder ob er sie lediglich dekorativ fand. Jedenfalls schien er überzeugt zu sein, daß er das Richtige tat.
    »Tut mir leid, daß ich so heftig geworden bin«, sagte Liu. »Diese amerikanische Beamtin hat ja keine Ahnung, wie die Dinge hier in China laufen.«
    »Dafür kann sie nichts. Auch ich habe erst gestern abend detaillierteren Einblick in Wens früheres Leben bekommen.
    Inspektor Rohn weiß davon nichts. Deshalb wollte ich mit Ihnen allein sprechen.«
    »Wenn Sie wissen, wie dieses Scheusal von Ehemann ihr das Leben zur Hölle gemacht hat, wie können Sie sie dann zu ihm schicken? Sie können sich nicht vorstellen, wie wir Wen damals in der Schulzeit verehrt haben. Sie war in allem unsere Anführerin, ihre langen Zöpfe flatterten um ihre Brust, ihre Wangen waren rosiger als Pfirsichblüten im Frühlingswind … Aber warum erzähle ich Ihnen das?«
    »Bitte erzählen Sie mir soviel wie möglich, damit ich einen ausführlichen Bericht für das Präsidium schreiben kann«, sagte Chen und holte sein Notizbuch hervor.
    »Gut, wenn Ihnen das weiterhilft«, sagte Liu überrascht.
    »Von Anfang an. Von Ihrer ersten Begegnung mit Wen.«
     
    Liu war 1967 in die weiterführende Schule gekommen, zu einer Zeit, als man seinen Vater, den Besitzer einer Parfümfabrik, als Klassenfeind denunzierte. Liu selbst wurde daher von seinen Kameraden, unter ihnen auch Wen, zu den verachteten »Schwarzen Welpen« gerechnet. Sie gingen in dieselbe Klasse. Wie viele andere war auch er von ihrer

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