Die Frau mit dem roten Herzen
Während der letzten paar Tage sind Inspektor Rohn und ich ständig beschattet worden.«
»Wirklich?«
»Am ersten Tag wurde Inspektor Rohn beinahe von einem Motorrad überfahren. Am zweiten brach eine Treppenstufe durch, als wir das Haus eines Zeugen verließen. Am dritten wurde, nur wenige Stunden nach unserem Besuch, eine Schwangere aus Guangxi entführt, die die Bande offenbar für Wen gehalten hatte. Hauptwachtmeister Yu wurde in seinem Hotel in Fujian beinahe vergiftet. Und vorgestern gerieten wir fast in eine Polizeirazzia, die nur inszeniert war, um uns auf dem Huating-Markt zu überraschen.«
»Und Sie sind sicher, daß all diese Zwischenfälle auf das Konto dieser Banditen gehen?«
»Derartige Zufälle gibt es nicht. Diese Leute haben ihre Ohren bei den Dienststellen in Shanghai und Fujian. Die Lage ist ernst.«
Liu nickte. »Sie machen sich zunehmend auch in der Geschäftswelt breit. Einige Firmen haben solche Gangster angeheuert, um Schulden für sie einzutreiben.«
»Jetzt verstehen Sie mich vielleicht besser, Liu. Nach meinen jüngsten Informationen werden die Kerle sie auch nach dem Verhandlungstermin nicht in Ruhe lassen, unabhängig davon, ob Feng mitspielt oder nicht.«
»Aber warum? Das verstehe ich nicht.«
»Fragen Sie nicht nach dem Warum. Nach allem, was ich weiß, sind sie entschlossen, sie aufzustöbern und ein Exempel an ihr zu statuieren. Und ich bezweifle nicht, daß ihnen das gelingen wird. Es ist nur eine Frage der Zeit. Sie macht sich etwas vor, falls sie meint, alles würde gut werden, wenn sie hier bei Ihnen bleibt.«
»Können denn Sie als Oberinspektor nichts für sie tun, für eine schwangere Frau?«
»Ich wünschte, ich könnte es, Liu. Glauben Sie vielleicht, es fällt mir leicht, meine Machtlosigkeit einzugestehen? Ich bin ein lächerlicher Polizist, dem die Hände gebunden sind. Nichts würde mich mehr freuen, als ihr helfen zu können.«
In seiner Stimme schwang seine ganze Frustration mit. Für einen Polizisten bedeutet das Eingeständnis seiner Machtlosigkeit mehr als bloßen Gesichtsverlust. Immerhin entdeckte er Sympathie in Lius Blick.
»Wenn Sie dies alles in Betracht ziehen«, fuhr Chen mit tiefem Ernst fort, »dann müssen Sie sehen, daß es in Wens eigenem Interesse ist, das Land zu verlassen. Sie haben keine Möglichkeit, sie noch länger zu schützen.«
»Aber ich kann sie doch nicht zu diesem Scheusal schicken, damit der sie den Rest seines Lebens quält.«
»Ich glaube nicht, daß sie das zulassen wird. Die vergangenen Tage hier haben sie verändert. Sie ist auferstanden, wie Sie das ausgedrückt haben. Ich bin sicher, daß sie neuen Halt gefunden hat.« Dann fügte er hinzu: »Außerdem wird Inspektor Rohn sich dort um sie kümmern. Sie wird in Wens Interesse handeln. Dafür werde ich sorgen.«
»Dann sind wir also wieder da, wo wir angefangen haben. Wen muß gehen.«
»Nein. Wir überblicken die Situation jetzt besser als zuvor. Ich werde versuchen, ihr das alles zu erklären, und dann soll sie selbst entscheiden.«
»Einverstanden, Oberinspektor Chen«, sagte Liu. »Reden Sie mit ihr.«
30
O BERINSPEKTOR C HEN und Liu Qing traten aus dem Büro und kehrten ins Wohnzimmer zurück, wo Inspektor Rohn und Wen stumm warteten.
Trotz ihres Schweigens nahm Chen eine Veränderung wahr. Auf dem Eßtisch stand eine beeindruckende Zahl von Gerichten, unter denen ein gewaltiger, in Sojasoße geschmorter Karpfen hervorstach, dessen Kopf und Schwanzflosse über die Platte mit dem Weidenmuster hinausragten. Vermutlich war es jener, der vor kurzem noch von Lius Hand gebaumelt hatte. Es dürfte nicht einfach sein, einen Karpfen von dieser Größe zuzubereiten, dachte Chen. Auch die anderen Gerichte sahen verlockend aus. Eines von ihnen, die rosigen, mit grünen Teeblättern gebratenen Flußkrebse, schien noch zu dampfen.
Eine Plastikschürze hing über der Lehne von Inspektor Rohns Stuhl. Vermutlich hatte sie in der Küche mitgeholfen.
»Entschuldigung, daß es so lange gedauert hat«, sagte Liu zu Wen. »Oberinspektor Chen möchte auch noch mit dir sprechen.«
»Hast du denn nicht mit ihm geredet?«
»Doch. Aber es ist deine Entscheidung. Er meint, du solltest dir ein klares Bild der Situation machen können. Es könnte sehr wichtig für dich sein«, sagte Liu. »Außerdem muß er die Antwort von dir selbst hören.«
Das hatte Wen nicht erwartet. Ihre Schultern begannen zu beben. Dann sagte sie, ohne den Kopf zu heben: »Wie du meinst.«
»Ich
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